Protokoll eines syrischen Flüchtlings „Für sie war ich der Teufel“

Köln · Wenn am Sonntag der CSD in Köln begangen wird, hat Saeid* besonderen Grund zu feiern. Bis er Mitte zwanzig war, wusste der Syrer nicht, dass Männer sich lieben können. Dann merkte der heute 36-Jährige, dass er selbst schwul ist – und machte den Fehler, seiner Frau davon zu erzählen. Ein Protokoll.

 Ein langer Weg bis zur Freiheit: In Köln hat Saeid ein neues Leben gefunden. Sein Gesicht will er nicht zeigen – aus Angst, dass ihn jemand in Syrien erkennt.

Ein langer Weg bis zur Freiheit: In Köln hat Saeid ein neues Leben gefunden. Sein Gesicht will er nicht zeigen – aus Angst, dass ihn jemand in Syrien erkennt.

Foto: Anne Orthen (ort)/Orthen, Anne (ort)

Die Mädchen in der Schule waren Fremde für mich. Sie saßen auf der einen Seite des Klassenraumes, wir Jungs auf der anderen. In der Uni musste ich zum ersten Mal mit Mädchen umgehen, mir Bücher leihen, solche Sachen. Ich wusste nicht, wie man sich Frauen gegenüber verhält. Ich glaube, ich war sehr unhöflich.

Mein Leben fand lange Zeit nur in meiner Familie statt. Ich bin in einer Mittelschichtfamilie in Damaskus aufgewachsen, viele von uns sind Ärzte oder Ingenieure. Doch meine Familie ist sehr religiös und konservativ. Alles, was mit Sexualität zu tun hatte, war tabuisiert. Wenn etwas im Fernsehen lief, das mit Sex zu tun hatte, schalteten unsere Eltern schnell um. Bis ich 18 Jahre war, wusste ich über Sex nur, dass es etwas zwischen Mann und Frau ist.

Ende der 90er Jahre kaufte mein Vater mir einen Computer. Eines Abends war ich alleine zu Hause und gab bei Google „Frauen“ ein. Ich sah Dinge, die ich noch nie im Leben gesehen hatte, nackte Frauen, so etwas. Als zweites Wort gab ich „Männer“ ein, ich weiß nicht genau warum – ich war einfach neugierig, was kommen würde. Was ich sah, interessierte mich mehr als die ersten Suchergebnisse.

Eines Tages – ich hatte meine Ausbildung und meinen Militärdienst fertig und Arbeit gefunden – kam meine Mutter zu mir und sagte: Du solltest nun heiraten. Ich war 20 Jahre alt. Ich führte damals schon lange einen inneren Kampf zwischen meiner digitalen und der realen Welt. Ich hoffte, wenn ich heirate, würde ich dieses Problem loswerden – denn ich würde Sex mit einer Frau haben und die digitale Welt vergessen. Wie naiv ich war!

Meine Mutter hatte eine Frau für mich gefunden, die ich kennenlernen sollte. Also traf ich sie. Es war das erste Mal, dass ich eine Frau wirklich ansah. Ich versuchte zu erkennen, ob sie hübsch war oder nicht. Aber ich wusste einfach nicht, was das ist, eine hübsche Frau. Wir hatten sechs Verlobungsmonate, in denen wir uns kennenlernen und in denen wir entscheiden konnten zu heiraten oder nicht. Für mich war die Entscheidung längst gefallen: Ich sagte mir, vergiss die Männer, du hast jetzt eine reale Beziehung. Ich versuchte mich erregt zu fühlen, wenn ich sie sah. Denn ich dachte, das wäre das einzig Richtige. Nach der Hochzeit zogen wir in eine eigene Wohnung, ich fühlte mich dort freier ohne meine Familie.

Ein Jahr nach der Hochzeit hatte ich Sex mit einem Mann, den ich über das Internet kennengelernt hatte. Es ist fast der einzige Weg, einen schwulen Mann in Syrien zu finden. Ich fühlte mich sehr schlecht, ich dachte, ich hätte das Schlimmste getan, was man im Leben tun könnte. Und ich dachte: Mit wem kann ich darüber reden? Ich dachte an meine Frau, ich dachte als Ehepaar sind wir beste Freunde, wir könnten das zusammen durchstehen. Also erzählte ich ihr, was geschehen war und wie schlecht ich mich fühlte. Es war der größte Fehler meines Lebens.

Am nächsten Tag rief mich meine Familie an und fragte: Was erzählt deine Frau uns? Meine Frau hatte es unseren beiden Familien gesagt! Ich musste sagen, dass sie lügt. In meiner Gemeinde war Schwulsein sehr schlimm, es bedeutete entweder pädophil zu sein oder sich wie eine Frau zu benehmen und anzuziehen. Seine Frau mit einer anderen Frau zu betrügen, das taten viele. Doch mit einem Mann – das galt als Schande.

Wir trennten uns. Meine Familie stellte meine Frau als Lügnerin dar und drängte mich, mich scheiden zu lassen. Doch das wollte ich ihr nicht antun, für eine Frau wäre das ein schlechtes Leben. Ich ging also zu ihr, sagte, dass alles, was ich ihr erzählt hatte, ein Traum gewesen sei. Dass es nicht mehr passieren würde. Und so führten wir die Ehe fort.

Von diesem Moment an begann ich zu schauspielern, sieben Jahre lang. Ich wurde ein sehr gehorsamer Ehemann – denn meine Frau wusste etwas Schlimmes von mir, sie konnte mich unter Druck setzen. Doch ich begann, mir ein geheimes, zweites Leben aufzubauen.

Mit 26 Jahren traf ich einen Mann. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich jemanden liebte. Ich wusste nicht, ob ich mich schämen sollte, aber ich liebte ihn mehr als meine Frau. Wir telefonierten stundenlang, ich fuhr sechs Stunden Auto, um ihn zu sehen. Zum ersten Mal erkannte ich, dass Schwulsein auch Liebe bedeuten kann. Etwas in mir hatte sich geöffnet.

Zu dieser Zeit hatten meine Frau und ich bereits drei Töchter. Ich führte einen schweren Kampf mit mir, ich fand nicht mehr die Kraft, meiner Frau zu gehorchen. Sie vermutete – zu Recht – dass ich wieder Männer traf und erzählte es wieder unseren Familien. Die letzten Monate der Ehe waren eine Katastrophe. Wir stritten ohne Ende. Es war sehr unschön für unsere Kinder, in dieser Umgebung aufzuwachsen.

Jeder zog wieder zu seiner Familie. Als ich versuchte, meine Töchter zu besuchen, schlug mich die Familie meiner Frau blutig. Vorher war ich der perfekte Schwiegersohn, ich fuhr sie in meinem Auto herum, lud sie in gute Restaurants ein. Doch nun war ich der Teufel für sie – weil ich schwul war.

Nach einem Jahr wurden wir vom Gericht geschieden. Es war das erste Mal, dass ich als Single lebte – und ich genoss es! Ich hatte zum ersten Mal mein eigenes Leben. In Damaskus hatte ich meinen ersten richtigen Freund. Das war natürlich geheim. Wir gingen viel zusammen aus, aber vor anderen Leuten waren wir beste Freunde.

Neben meinem geheimen Leben waren meine Töchter das Wichtigste für mich. Doch meine Exfrau wollte Rache. Sie ließ keinen Kontakt zwischen uns zu, sie dachte, ich hätte schlechten Einfluss auf die Kinder. Ich weiß nicht, ob sie ihnen schlechte Dinge über mich erzählt. Seit über fünf Jahren habe ich meine Töchter nicht gesehen oder gehört. Ich weiß nicht, wie sie heute aussehen.

Ich habe vor meinen Eltern und meinen Geschwistern nie zugegeben, dass ich schwul bin – es würde sie sehr traurig machen. Sie würden mich nicht hassen, aber sie würden sehr darunter leiden, auch in der Gemeinde. Ich glaube, im Inneren wussten sie es. Ich konnte mich nicht ändern und sie konnten ihre Einstellung nicht ändern, es ist tief in ihnen verankert. Und ich wollte nicht, dass sie leiden. Also entschied ich, zu gehen.

Mit einer Demonstration in Damaskus fing 2011 der Krieg in meinem Land an. Unsere Wohnung lag in einem Bereich, in dem gekämpft wurde, dort konnte ich nicht bleiben. Dazu kam, dass die Mutter meiner Exfrau allen Bekannten meiner Familie erzählte, dass ich schwul war. Ihr Vater und ihre Brüder wurden zur Gefahr für mich. Also entschied ich mich, das Land zu verlassen.

Ich fand einen Job in Jordanien. Es ist ein sehr konservatives Land, auch dort konnte man nur versteckt schwul leben. Trotzdem war das Leben dort ein bisschen besser für mich, ich lebte alleine, hatte einige Monate sogar eine Beziehung. Nach einigen Jahren endete meine Arbeit dort und ich fand ein neues Projekt in der Türkei. Doch auch das war bald vorbei und ich wurde arbeitslos.

Zu dieser Zeit – etwa zwei Jahre ist es jetzt her – flohen sehr viele Menschen aus Syrien in die Türkei, alle suchten einen Job, deswegen gab es dort kaum Arbeit. Ich entschied ich, nach Europa zu fliehen. Ein schwuler Freund lieh mir Geld und ich kam mit einem Boot nach Griechenland. Die Fahrt war ein Alptraum.

Nach 15 Tagen kam ich in Deutschland an. Ich hatte Busse und Züge benutzt, von denen ich manchmal nicht wusste, wohin sie fuhren. Am Flughafen Köln-Bonn erkannte ich erst am Bahnhofsschild, wo ich war. Von dort brachte man uns in ein ehemaliges Militärcamp. Mit zwei anderen Männern lebte ich in einem Zimmer. Ich hatte Glück: Ich sehe aus wie ein Hetero. Andere Flüchtlinge, die offensichtlich schwul sind, haben mir von großen Problemen erzählt, einige wurden in ihren Camps von konservativen Arabern zusammengeschlagen. Ein Freund von mir ist mit seinen Brüdern nach Deutschland gekommen. Er sagt, wenn sie herausfinden, dass er schwul ist, würden sie ihn umbringen.

Es kam der Moment, in dem ich zum ersten Mal einem völlig Fremden erzählte, dass ich Männer liebe. Ich sagte es einem deutschen Mitarbeiter im Camp, der für Transfers in andere Städte zuständig war – denn ich wollte umziehen und studieren. Es kostete mich sehr viel Mut, es auszusprechen. Ich litt lange unter dem Versteckspiel, aber ich ahnte, dass ich in Deutschland sicher war.

Durch ein deutsch-arabisches Abendessen fand ich ein WG-Zimmer in Köln. Als ich meinen Mitbewohner zum ersten Mal traf, fragte ich ihn, ob es ein Problem ist, dass ich schwul bin. Überhaupt nicht, sagte er. Auch der andere Mitbewohner war sehr freundlich. Sie waren beide nicht schwul. Ich war sehr erleichtert, dass sie so offen waren.

Mein erstes Jahr in Köln veränderte mein Leben und meine Mentalität komplett. In Deutschland ist mein verstecktes homosexuelles Leben ein reales Leben geworden. Ich mag es, die Hand meines Freundes zu halten. Ich finde, man kann sich dafür schämen, Müll auf den Boden zu schmeißen oder jemanden zu verletzen – aber nicht dafür, dass man eine Hand hält.

Ich versuche in Deutschland den Kontakt zu arabischen Freundeskreisen zu vermeiden. Es fühlt sich noch immer komisch an, die Hand eines Mannes zu halten, wenn arabische Leute in der Nähe sind. In meinem Freundeskreis in Deutschland gibt es eine Frau, die mit einem arabischen Mann zusammen ist. Es fiel mir schwer, mich mit ihm anzufreunden. Inzwischen weiß er, dass ich schwul bin. Zum Glück lebt er schon lange in Deutschland und kommt damit klar.

Als der Bundestag die Ehe für alle beschloss, habe ich mit anderen auf der Straße gefeiert. Aber es ist trotzdem komisch für mich, dass zwei Männer nun Kinder adoptieren können. Ich denke, ein Kind braucht auch eine weibliche Person um sich.

Ich bin religiös, ich bin Muslim. Ich habe inzwischen viel über Religion gelesen, ich interpretiere sie anders als meine Familie. Die Ablehnung, die meine Familie gegen Schwule hat, hat glaube ich mehr mit Tradition als mit Religion zu tun. Für mich bedeutet Islam zum Beispiel, die Wahrheit zu sagen, viel zu arbeiten, niemanden zu verletzen. Ich bete zu Hause, faste im Ramadan. Für mich ist das kein großes Problem, ich kann Muslim sein und schwul.

In Deutschland will ich bleiben. Ein großer Wunsch ist, meine Familie wiederzusehen. Syrien kann ich erst wieder besuchen, wenn ich deutscher Staatsbürger bin. Das geht für mich frühestens nach sieben Jahren in Deutschland. Dafür muss ich die Sprache noch etwas besser lernen. Einen Job habe ich schon. Dass ich nun offen leben kann, hat mich viel gekostet. Hoffentlich kann ich eines Tages meine Kinder wiedersehen. Immer wieder schreibe ich auf meinem Facebook-Profil öffentliche Nachrichten an sie. Sie sollen wissen, dass ich an sie denke.

*Name geändert

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