Corona-Frust Ahhhhhhhhhh!

Düsseldorf · Corona macht viele Menschen wütend. Doch es gibt bessere Lösungen, als andere anzubrüllen. Zum Beispiel an einem verlassenen Ort seinen Frust herausschreien. Es hilft, sagen die, die es tun.

 Das Gemälde „Der Schrei“ von Edvard Munch in einer Ausstellung in der Albertina in Wien im Jahr 2003.

Das Gemälde „Der Schrei“ von Edvard Munch in einer Ausstellung in der Albertina in Wien im Jahr 2003.

Foto: dpa/Hans Klaus Techt / dpa

Edvard Munchs expressionistisches Gemälde „Der Schrei“ ist ebenso berühmt wie missverständlich. Nicht etwa dem aufgerissenen Mund der abgebildeten Gestalt scheint ein solcher Urlaut zu entweichen, es sind vielmehr die schreienden Farben um sie herum, ein greller, gelbroter Himmel, ein tiefblauer Fjord, die wie eine unheimliche akustische Eruption wirken und die Person im Vordergrund offenbar derart schockieren, dass sie sich mit einem Ausdruck des Entsetzens die Ohren zuhält. „Ich fühlte den unendlichen Schrei in der Natur und malte dieses Bild“, beschrieb Munch später selbst den Moment während eines Spaziergangs, der ihn inspiriert hatte.

Dennoch: Es gibt kaum ein Motiv, das gerade jetzt, nach fast 130 Jahren, das Unbehagen des Menschen über eine ihm unheimlich gewordene Welt so überzeugend zum Ausdruck bringt. Der einzige Unterschied zu damals: In den Corona-Zeiten unseres Missvergnügens entdeckt eine wachsende Zahl von Leuten das Schreien als Ventil.

Wir berichten an dieser Stelle ausdrücklich nicht von jenen, die lautstark durch die Städte ziehen, um gegen Hygienemaßnahmen zu protestieren. Mit Gebrüll hat jenes Schreien nichts zu tun. Wir sprechen vielmehr vom Thema „Wütend sein – aber richtig“ und verweisen dabei zum Beispiel auf Sarah Harmon, Lehrerin aus Boston, Massachusetts. Schon im März 2021 – Schulen und Kitas schlossen mal wieder und beschränkten das Leben der Mutter zweier kleiner Kinder abermals auf häusliche Betreuung und Arbeit – hatte sie genug: Man müsste seinen ganzen Frust einfach mal rausschreien, meinte sie gegenüber einer Bekannten in ähnlicher Lage. Irgendwo. Nur für sich. Die Angesprochene entgegnete: Warum eigentlich nicht?

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Und so organisierte Sarah Harmon ein paar Wochen lang Treffen mit einem guten Dutzend anderer Mütter auf dem dunklen, verlassenen Footballfeld der Charlestown High School – zum gemeinsamen Schreien. Als die Gruppe das Ritual Anfang dieses Jahres wieder aufnahm und ein Video davon in die sozialen Netzwerke gelangte, wurden die „Screaming Moms“ über Nacht weltbekannt. Es gibt bereits zahlreiche Nachahmer, die abseits belebter Orte alles herausschreien, was raus muss.

„Es wirkt so befreiend“, sagen die einen, „es ist besser, als jemanden anzuschreien“, finden die anderen, „man schläft anschließend besser“, berichten dritte, und überhaupt, so heißt es unisono, sei es toll, einmal kontrolliert die Kontrolle zu verlieren, wo doch die ganze Zeit von Müttern das Gegenteil erwartet werde. Den Wettstreit, wer am längsten am Stück schreien kann, entschied übrigens Ms. Buckley für sich. Sie schrie etwa 30 Sekunden lang. „Es war großartig“, befindet sie noch heute.

Vom plötzlichen öffentlichen Interesse ist Sarah Harmon noch immer überrascht: „Dabei habe ich gar nichts Neues erfunden.“ Tatsächlich war die von Corona gebeutelte isländische Tourismusbranche im vergangenen Jahr auf die Idee gekommen, ganze Schrei-Reisen für Pandemie-Frustrierte in ihr dünn besiedeltes Land zu veranstalten. Wer keine Lust hat, auf die Vulkaninsel im Nordatlantik aufzubrechen, kann auch jetzt noch zu Hause am Computer unter looks­likeyouneediceland.com vor dem hübschen Bild einer isländischen Bucht nach Leibeskräften losschreien – vorausgesetzt, die Nachbarn nebenan fallen deshalb nicht vom Stuhl. An sieben Orten in der isländischen Natur wurden sogar extra Lautsprecher aufgestellt, die die Schreie übertrugen.

Dabei existiert bereits seit den 70er-Jahren im schwedischen Uppsala der Brauch des Nachtschreiens. Im Studentenviertel „Sernanders väg“ ist man daran gewöhnt, dass jeden Abend um 22 Uhr junge, lernstressgeplagte Leute ans Fenster treten und losschreien. Nahe Oberstdorf im beschaulichen Allgäu kennt man dergleichen weniger. Aufgeschreckte Spaziergänger alarmierten im Februar 2021 die Polizei wegen lauter Schreie im Wald. Mittels eines Hubschraubers konnte schließlich eine Gruppe ausfindig gemacht werden, die im tiefen Tann eine Schrei-Therapie durchführte. Den Bäumen war es egal.

Neuerdings unterweist die niederländische Sängerin Juli Scott am Strand von Scheveningen Kursteilnehmer in der Kunst des Schreiens, das einerseits kraftvoll klingen, andererseits aber die Stimmbänder nicht verletzen soll. Funktioniert demnächst vielleicht auch an den Ufern des Rheins? In Finnland gibt es immerhin seit dem Jahr 1987 die mittlerweile weltberühmte Formation „Mieskuoro Huutajat“, einen Chor der schreienden Männer, der seine Darbietungen überwiegend ruft, schreit, brüllt oder laut spricht, wobei Requisiten wie Megafone, Banner und Ofenrohre Verwendung finden.

Als einzige höher entwickelte Lebewesen schreien Menschen nicht nur aus Wut, Angst oder Schmerz, sondern auch, wenn sie sich extrem freuen, einen Triumph auskosten oder Lust zum Ausdruck bringen. Der Schrei als Warnsignal für eine Gruppe von Artgenossen hat dagegen an Bedeutung verloren. Forscher spielten unlängst Versuchspersonen eine Auswahl von Schreien vor, die das ganze Spektrum menschlicher Gefühle ausdrückten. Entgegen aller Erwartung reagierten die Probanden auf nicht alarmierende Schreie schneller und erkannten die damit ausgedrückte Emotion zuverlässiger als bei alarmierenden Schreien.

Wie auch immer: Der Schrei vermag innere Spannungen zu lösen, er baut Aggressionen ab, er kann uns auf archaische Weise sogar mit uns selbst versöhnen. Schreiend kommen wir auf diese Welt, worüber alle entzückt sind, schreiend wollen wir sie allerdings auf keinen Fall wieder verlassen, weshalb der letzte Schrei (veraltet) vornehmlich als Gütesiegel für Modetrends Verwendung findet.

Andererseits ist kein Schmerz- oder Todesschrei so berühmt-berüchtigt wie der „Wilhelmschrei“. 1953 wurde in dem unbedeutenden Western „Der brennende Pfeil“ die noch unbedeutendere Nebenfigur Wilhelm zu seinem Namensgeber, als sie mit diesem markanten Schrei die Bekanntschaft ihres Oberschenkels mit einem Indianerpfeil quittierte. Die Soundspur aus der Hollywood-Klangbibliothek hat seither in Hunderten von Filmen bis in die Gegenwart Verwendung gefunden, wie eine Auswahl auf Youtube eindrucksvoll belegt. Ob „Star Wars“, „Batman“ oder Computerspiel – es ist bis heute wirklich ein- und derselbe Schrei aus der Klangkonserve.

Der Schrei hat einen schlechten Ruf. Wer schreit, hat Unrecht, lautet ein deutsches Sprichwort. Da ist viel Wahres dran. Gemeint sind der Kontrollverlust und der Mangel an Respekt, die mit der Entladung aufgestauter Wut häufig einhergehen. Dann wird es meist schmutzig. Kommunikation sieht anders aus. Gut, dass es in der Regel bei einem innerlichen „Ich könnte schreien“ bleibt, und klug, das nur in einem geschützten Raum Wirklichkeit werden zu lassen, wo es keinem wehtut – als eine Art seelische Hygiene. Besser als Brüllen bleibt es allemal.

Also: Schmoren Sie noch oder schreien Sie schon?

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