Abitur Reifeprüfung eines reifen Prüflings

Düsseldorf/Viersen · Es war ein bisschen wie in der Feuerzangenbowle. Nur dass es bloß einen "Schööler" gab. Der immerhin war Professor. Bereit, 51 Jahre nach seiner Reifeprüfung noch einmal eine Abiturklausur zu schreiben. Und sie korrigieren zu lassen.

 Prüfling: Ulrich von Alemann. Der Prüfer: Ingo Klüsserath.

Prüfling: Ulrich von Alemann. Der Prüfer: Ingo Klüsserath.

Foto: Endermann/Radowski

Freitag, 17. April 2015: Professor Ulrich von Alemann erscheint in der Redaktion der Rheinischen Post in Düsseldorf-Heerdt. Sein Handy muss er nicht abgeben. Er hat es freiwillig zu Hause gelassen. Auf das einzige zugelassene Hilfsmittel, den Duden, verzichtet er. Der Professor gibt sich locker. Aber ein klein wenig aufgeregt ist er doch. Ein gutes halbes Jahrhundert nach seiner Reifeprüfung am Staatlichen Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Köln stellt er sich einem ungewöhnlichen Test: Noch einmal eine Abi-Klausur zu schreiben. Im Leistungskursus Sozialwissenschaften. Seine Frau hat nur den Kopf geschüttelt. Aber er will wissen: Was wird anders sein als früher?

Natürlich sind es nicht dieselben Aufgaben, über denen zur selben Zeit 33 Kilometer westlich von Düsseldorf im Clara-Schumann-Gymnasium in Viersen-Dülken die 23 Abiturienten des "SoWi"-Leistungskurses von Oberstudienrat Ingo Klüsserath brüten. In Zeiten des Zentralabiturs sind die Klausur-Themen streng geheim.

Auf den reifen Prüfling, von Alemann ist 70 Jahre alt, warten daher die Tests vom vergangenen Jahr. Was er aber nicht weiß. 30 Minuten hat er Zeit, sich für eine von drei Aufgaben zu entscheiden. Danach beginnt die Klausurzeit von vier Stunden und 15 Minuten. Genau wie in Viersen.

Am Clara-Schumann-Gymnasium weiß Ingo Klüsserath an jenem Freitag schon, dass er nicht 23, sondern 24 Arbeiten korrigieren wird. Für die des Professors gelten dieselben strengen Regeln wie für seine Schüler, die er zwei Jahre auf die entscheidende Klausur vorbereitet hat. Zwar kennt von Alemann das Bewertungsschema nicht so exakt wie Klüsseraths Kursteilnehmer. Dafür ist der Erfahrungshorizont des emeritierten Hochschullehrers ungleich höher.

 Ulrich von Alemann als Abiturient.

Ulrich von Alemann als Abiturient.

Foto: Nein

Von Alemann, der zuletzt Politikwissenschaften an der Düsseldorfer Heinrich-Heine Uni lehrte, entscheidet sich zügig für das Thema "Welchen Weg soll die Europäische Union einschlagen?". Ein Aufsatz aus der "FAZ", den er nun wichten und wägen soll. Das Büro, in dem von Alemann sitzt, ist rundum verglast, der Blick des Redakteurs nebenan wachsam. Pfuschen geht nicht. Los geht's. Kaum ist die Gliederung erstellt, fließen die Worte in großer und schwungvoller Schrift auf die linke Seite der säuberlich in der Mitte gefalteten Blätter. 26 davon wird er nach gut drei Stunden gefüllt haben.

"Ziemlich anspruchsvoll", findet von Alemann die Aufgabenstellung, als er mit seiner "zweiten Reifeprüfung" fertig ist. "Sozialwissenschaften gab es ja damals ja noch nicht. Wir hatten Gemeinschaftskunde." Freilich: Soziologie, Politikwissenschaft, Staatsrecht und Geschichte hat er später in Köln, Münster, Bonn und im kanadischen Edmonton studiert, ehe er mit 33 Jahren Professor wurde. "Diese Abiturarbeit ist vom Schwierigkeitsgrad durchaus vergleichbar mit Klausuren, die wir heute Bachelor-Studenten schreiben lassen."

Tatsächlich sind die Anforderungen deutlich gestiegen. Die Zahl derer, die sich ihnen stellen, aber auch. 1964, als von Alemann sein Abi machte, zählte er zur Minderheit von weniger als zehn Prozent seines Jahrgangs, welche die allgemeine Hochschulreife erwarb. Heute verlassen etwa die Hälfte der Jungen und Mädchen die Schule mit Abitur.

Mittwoch, 22. April 2015. Ingo Klüsserath hat von Alemanns Arbeit vor sich auf dem Schreibtisch. Und einen Rotstift in der Hand. Seit neun Jahren ist der Fachlehrer für Sozialwissenschaften und Philosophie am Clara-Schumann-Gymnasium in Dülken. "SoWi" ist ein beliebtes Fach an der Schule, weil es aktuelle Themen aufgreift und Anlass zu munteren Kontroversen bietet.

Um es vorwegzunehmen: Sehr "blutig" wird die Korrektur der Ausführung seines einzigartigen Prüflings nicht. "Die eigene Positionierung hinsichtlich der Ausgangsfrage würde ich mir unter echten Abiturbedingungen etwas ausführlicher wünschen", schreibt der 41-jährige Fachlehrer einmal an den Rand. Sein Urteil: "Dieser Prüfungskandidat fokussiert sich stark auf die wissenschaftliche Erörterung und vernachlässigt etwas die eigene Wertung, die wir von Schülerinnen und Schülern im Sinne einer politischen Urteilsbildung fordern. Dafür geht er in anderen Bereichen deutlich über die Anforderungen hinaus. Fachlich ist diese Arbeit auf sehr hohem Niveau."

Freitag, 24. April 2015. Notenverkündung. Professor Dr. Ulrich von Alemann erscheint gar nicht als der coole Wissensprofi, der er eigentlich sein könnte. Die Aufregung steigt wie bei der Klausur vor genau einer Woche - und erweist sich als unnötig. Ingo Klüsserath hat ihm ein "sehr gut" gegeben. Keine Eins+, aber eine glatte Eins.

Spaß habe es gemacht, sagt der Ausnahme-Abiturient. "Das Thema Europa liegt mir ja auch am Herzen. Das war eine Aufgabenstellung nicht aus dem wissenschaftlichen Elfenbeinturm, sondern aus der Mitte einer aktuellen gesellschaftlichen Debatte." Und vielleicht war diese Reifeprüfung für den reifen Prüfling auch so etwas wie eine späte Genugtuung: Denn eine seiner Arbeiten im Abitur vor 51 Jahren hat von Alemann total verhauen: "Das war die Übersetzung in Latein. Eine glatte Fünf."

(RP)
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