Beihilfe zum Mord in 3.500 Fällen SS-Wachmann des KZ Sachsenhausen schweigt

Update | Brandenburg an der Havel · Der Prozess gegen einen 100-Jährigen ehemaligen SS-Wachmann hat am Donnerstag in Brandenburg begonnen. Er soll im KZ Sachsenhausen aktiv an der Ermordung von über 3.500 Menschen beteiligt gewesen sein. Darüber sprechen möchte er nicht.

 KZ Sachsenhausen.

KZ Sachsenhausen.

Foto: dpa/Kristin Bethge

Wegen NS-Verbrechen muss sich ein 100-jähriger früherer SS-Wachmann des KZ Sachsenhausen seit Donnerstag in Brandenburg an der Havel vor Gericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Beihilfe zum grausamen und heimtückischen Mord in 3.518 Fällen zwischen Januar 1942 und Februar 1945 vor. Vorgesehen sind mehr als 20 Verhandlungstage bis Januar 2022.

Am ersten Prozesstag wollte sich der Angeklagte nicht zu den Vorwürfen äußern. Dies erklärte sein Verteidiger Stefan Waterkamp am Donnerstag beim Auftakt des Prozesses in Brandenburg/Havel. Sein Mandant wolle sich aber am Freitag zu seinen persönlichen Verhältnissen äußern, soweit dies nicht die Vorwürfe betreffe.

In dem Verfahren geht es unter anderem um die Erschießung sowjetischer Kriegsgefangener, die Ermordung von Häftlingen durch den Einsatz von Giftgas und allgemein um die Tötung von Häftlingen durch die Schaffung und Aufrechterhaltung von lebensfeindlichen Bedingungen. Der Angeklagte hat dazu nach Auffassung der Staatsanwaltschaft als Wachmann Beihilfe geleistet.

Der Angeklagte soll einem Gutachten zufolge trotz seines hohen Alters verhandlungsfähig sein – aber nur für zwei bis zweieinhalb Stunden am Tag. Aufgrund der Nähe zum Wohnort des Angeklagten findet des Prozess deshalb in Brandenburg an der Havel statt, und dort aus Platzgründen in einer Sporthalle. Bis Januar wurden 22 Verhandlungstage angesetzt.

Laut Staatsanwaltschaft gehörte S. dem Wachbataillon des Lagers Sachsenhausen, in dem die SS ein großes Kontingent stationiert hatte, bis 1945 an. Das Lager nördlich von Berlin war ein Ausbildungsort für Wachpersonal und Kommandanten der Konzentrationslager im gesamten NS-Terrorsystem. Insgesamt wurden dort über die Jahre rund 200.000 Menschen gefangen gehalten. In Deutschland gab es zuletzt bereits mehrere Prozesse gegen frühere Mitglieder der Mannschaften von NS-Lagern.

Nach Angaben der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten hat sich nur ein kleiner Bruchteil der Täter vor Gericht verantworten müssen. Bis 2005 seien in der Bundesrepublik insgesamt 257 Strafverfahren gegen 340 Tatverdächtige des KZ Sachsenhausen geführt worden, hieß es dort. Auch vor sowjetischen Militärtribunalen und in der DDR fanden seinerzeit einige Prozesse statt. Dem stehen nach Aussage von Stiftungsdirektor Axel Drecoll Tausende SS-Männer gegenüber, die von 1936 bis 1945 im KZ Sachsenhausen tätig waren.

An dem Verfahren in Brandenburg an der Havel sind nach Angaben des Landgerichts Neuruppin auch Überlebende des KZ Sachsenhausen und Nachkommen ehemaliger Häftlinge als Nebenkläger beteiligt, unter anderem aus Israel, Peru, Polen, den Niederlanden und Frankreich.

Der Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, Christoph Heubner, nach dem Ende des ersten Verhandlungstages enttäuscht über das Schweigen des Angeklagten gezeigt. „Der Angeklagte hat während der Anklageverlesung keinerlei Emotionen gezeigt“, sagte Heubner am Donnerstag in Brandenburg/Havel. „Und nun hoffen wir, wenn Angehörige hier aussagen über die Ermordung ihrer Väter in Sachsenhausen - dass diese Emotion vielleicht den Hintergrund des Angeklagten erreicht und dass er Bereitschaft zeigt, um Worte zu finden, eine menschliche Brücke herzustellen zwischen seiner Geschichte und dem Leiden der Anderen.“

Es gebe nur ganz wenige Ausnahmen von SS-Leuten, die gesprochen haben, berichtete Heubner. Die übergroße Mehrheit habe ihr Leben lang geschwiegen und sich in der Normalität ihres Lebens eingerichtet. „Für die Überlebenden ist das eine weitere Zurückweisung, das ist wie im Lager: Man war Ungeziefer, man war irgendwo da unten, man wurde einfach angebrüllt“, erklärte Heubner. Dies sei für die Überlebenden und Angehörigen, die als Zeugen zum Prozess angereist seien, bitter. „Da sitzt ein alter Mann, der doch recht kräftig ist und sagt: „Ich habe mich entschieden zu schweigen“.“

Daher sei ein Urteil in dem Prozess für die Angehörigen ungemein wichtig, betonte Heubner. „Sie wollen nicht unbedingt, dass der Angeklagte hinterher im Gefängnis sitzt oder irgendwie leidet, aber dass er vor einem deutschen Gericht gestanden hat und ein Urteil ergangen ist, das auch ein Urteil im Namen der vielen Ermordeten ist, die alle hier mit sitzen - das ist ihnen eminent wichtig.“

(epd)
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