Analyse Franziskanische Wende

Düsseldorf · Der "Papst vom anderen Ende der Welt" schreibt als antikapitalistischer Sozialethiker und Hirte, der klerikales Elitebewusstsein anprangert. Gnade und Barmherzigkeit stufte er höher ein als kirchliche Gesetzesfixierung.

Jede Regierungserklärung, die gut ist und nachhaltige Wirkung erzeugen soll, enthält ein Leitmotiv, verdichtet in einem Kernsatz. Wir denken an John F. Kennedys "Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, frage, was du für dein Land tun kannst". Oder an Bundeskanzler Willy Brandts "Wir wollen mehr Demokratie wagen".

Das 180 Seiten starke apostolische Schreiben von Papst Franziskus, veröffentlicht im neunten Monat seines Pontifikats, enthält neben vielen anderen nachdenkenswerten Äußerungen ebenfalls einen Satz, der besonders aufhorchen lässt: "Mir ist eine verbeulte Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist."

Der Leitsatz aus dem päpstlichen Schreiben über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute entspricht dem mehrfach erteilten Rat des "Papstes vom anderen Ende der Welt" (Franziskus' Selbstbeschreibung) an seine kirchlichen Mitstreiter, gute Hirten zu sein, den "Geruch der Schafe anzunehmen" und vor allem: an die Ränder zu gehen und nicht allein dorthin, wo die frommen Glocken läuten lassen.

Das Evangelium, also die frohe Botschaft neu in die Welt hinauszutragen, hat für Franziskus eine wirtschafts- und sozialpolitische, eine sozialethische Komponente — auch dies getreu dem Wunsch des Papstes nach einer "armen Kirche für die Armen", wie er es bereits nach seiner Wahl am 13. März ausgedrückt hatte. Franziskus schreibt: "Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen. Diese Wirtschaft tötet." Und weiter: "Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht." Weiter: "Es ist nicht mehr zu tolerieren, dass Nahrungsmittel weggeworfen werden, während es Menschen gibt, die Hunger leiden."

Man spürt deutlich: Hier schreibt ein Priester, der aus der südlichen Hemisphäre kommt, dem der krasse südamerikanische Gegensatz zwischen Luxus und Armut tagtäglich in die Augen stach. Franziskus formuliert aus Erfahrung unverblümt: "Nein zur neuen Vergötterung des Geldes. Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen. Während die Einkommen einiger weniger exponentiell steigen, sind die der Mehrheit immer weiter entfernt vom Wohlstand dieser glücklichen Minderheit." Der Papst erklärt sodann einen Grund für diese Entwicklung: "Dieses Ungleichgewicht geht auf Ideologien zurück, die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen. Darum bestreiten sie das Kontrollrecht der Staaten, die beauftragt sind, über den Schutz des Gemeinwohls zu wachen." Zum Schluss klingt es versöhnlich: Der Papst liebe alle, Reiche und Arme, doch im Namen Christi habe er die Pflicht daran zu erinnern, dass die Reichen den Armen helfen, sie achten und fördern müssen.

Es wäre verkehrt, das apostolische Schreiben "Evangelii Gaudium" ("Freude des Evangeliums") als die Botschaft eines verhinderten Politikers zu lesen. Über weitere Strecken schreibt Franziskus als Heiliger Vater, als Bischof von Rom an seine Bischöfe, Priester und Diakone und an die christgläubigen Laien — mit starker Betonung des vorrangigen Prinzips der christlichen Barmherzigkeit vor lehramtlicher Strenge. Man mag eine Wende im Verhalten des Vatikans zum Empfang der Sakramente etwa durch geschiedene Wiederverheiratete erkennen. Sakramente, so Franziskus, dürften nicht unnötig vorenthalten werden. Das gelte besonders für das Taufsakrament, aber auch für die Eucharistie. Der Empfang der Heiligen Kommunion sei eben keine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und Nahrung für die Schwachen. Bislang sind Wiederverheiratete, deren nach katholischem Sakraments-Verständnis vor Gott geschlossene Ehe geschieden worden war, vom Empfang der Kommunion ausgeschlossen.

Ganz im Sinne seines bescheidenen Stils bei der Ausübung des Papstamtes prangert Franziskus "narzisstisches und autoritäres Elitebewusstsein" innerhalb der Kirche an, ebenso ein Überlegenheitsgefühl derjenigen, die bestimmte Normen einhalten und "einem gewissen katholischen Stil der Vergangenheit unerschütterlich treue sind". Es folgt ein weiterer kritischer Blick auf einige, bei denen eine "ostentative Pflege der Liturgie, der Lehre und des Ansehens der Kirche" festzustellen sei.

Auch zum Verständnis des Papstamtes und zum römischen Zentralismus finden sich kritische Botschaften: Franziskus unterstreicht die Notwendigkeit einer heilsamen Dezentralisierung innerhalb der Weltkirche und damit verbunden einer Stärkung der nationalen Bischofskonferenzen und deren Mitspracherechte. Er glaube nicht, dass man vom päpstlichen Lehramt eine endgültige und vollständige Aussage zu allen die Kirche und die Welt betreffenden Fragen erwarten dürfe.

Wie zu erwarten war, erteilt auch dieser Nachfolger Petri allen Wünschen nach Priesterinnen in der katholischen Kirche sowie nach einer Lockerung des unbedingten Nein zur Abtreibung eine Absage. Allerdings wendet sich der Papst auch deutlich gegen eine Überbetonung katholischer Moralvorstellungen im Alltag der Menschen: Wenn zum Beispiel ein Pfarrer während des liturgischen Jahres zehnmal über die Enthaltsamkeit und nur zwei- oder dreimal über die Liebe oder die Gerechtigkeit spreche, entstehe ein Missverhältnis. Verfehlt ist für Franziskus schließlich dies: wenn mehr vom Gesetz als von der Gnade, mehr von der Kirche als von Jesus Christus, mehr vom Papst als vom Wort Gottes gesprochen wird.

(RP)
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