Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule Opfer wurden systematisch unterdrückt

Heppenheim (RPO). Die von der südhessischen Odenwaldschule beauftragten Opferanwältinnen Claudia Burgsmüller und Brigitte Tilmann ziehen eine bestürzende Zwischenbilanz ihrer Aufklärungsarbeit. "Die Gegenwehr von Opfern sexuellen Missbrauchs wurde in dem Internat systematisch gebrochen", sagte die Wiesbadener Strafrechtlerin Burgsmüller am Donnerstag in Heppenheim.

Missbrauch an der Odenwaldschule
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"Es ist widerlegt, dass die jeweiligen Schulleiter unwissend waren." Aussicht auf eine Entschädigung haben die Opfer vorerst nicht. Für einen finanziellen Ausgleich stünden der Schule zurzeit keine Mittel zur Verfügung, sagte Trägervereinssprecher Johannes von Dohnanyi. Der Verein versuche jedoch, einen Spendenfonds einzurichten.

Die Heppenheimer Reformschule hatte im April Burgsmüller und die Darmstädter Ex-Richterin Tilmann als "Aufklärerinnen" verpflichtet. Tilmann sagte, die bisher bekannte Zahl von rund 50 Opfern in den Jahren vor 1991 werde noch anwachsen. Von weiteren 28 missbrauchten Schülern sei ihnen berichtet worden, notwendige Gespräche stünden in diesen Fällen aber noch aus.

"Die Zahl 50 nicht zu halten"

"Die Zahl 50 ist nicht zu halten, es hat sehr viel mehr Opfer gegeben", sagte Tilmann. Den ursprünglich für Herbst angekündigten Abschlussbericht werde es "nie" geben. Die genaue Zahl der jugendlichen Missbrauchsopfer an der Odenwaldschule wird somit unbekannt bleiben.

Die Dimension des Missbrauchs und die Strukturen, die ihn ermöglichten, nehmen aber immer mehr Gestalt an. Bereits 1966 hätten sich zwei ältere Schüler wegen sexueller Übergriffe erfolglos an den damaligen Schulleiter Walter S. gewandt, berichtete Burgsmüller. Auch ein 13 Jahre alter Junge, der wenig später S. von rund zehn Schülern im Alter von acht bis zwölf Jahren erzählte, die von zwei ihrer Lehrer missbraucht würden, scheiterte mit seinem Versuch der Gegenwehr.

Er geriet disziplinarisch unter Druck und verließ die Schule. Einen der beiden beschuldigten Lehrer bezeichnen die Anwältinnen als "Haupttäter, in dessen aktiven Jahren wohl kein Schüler seiner jeweiligen Internatsfamilien ungeschoren blieb".

Missbrauch war sexualisiert

Burgsmüller präsentierte in Heppenheim auch Zitate aus dem schriftlichen Bericht eines Altschülers, der 1971 die Oberstufe des Internats besuchte. "Es dauerte nicht lange, bis ich Gerüchte über Gerold Beckers sexuelle Vorlieben mitbekam", heißt es in dem Dokument. Gerold Becker war von 1972 bis 1985 Schulleiter in Heppenheim und hat seine Vergehen inzwischen zum Teil eingeräumt.

"Die Aussicht auf einen pädophilen Schulleiter war uns allen zuwider", schreibt der Altschüler in seinem Bericht. Er habe seinerzeit recherchiert und sei auf zahlreiche Fälle gestoßen. "In meiner Verzweiflung ersuchte ich Becker um ein Vier-Augen-Gespräch", notiert der damalige Oberstufenschüler. Auch drohte er mit Offenlegung seiner Beweise.

Becker habe nur sanft erklärt, er habe nichts zu befürchten. "In Anbetracht dieser Geschehnisse bin ich zu der Überzeugung gelangt", schreibt der Altschüler in seinem Bericht an die Anwältinnen, "dass von Beckers umtriebiger Pädophilie schon 1971 nur diejenigen nichts wussten, die nichts wissen wollten." Wenn von "Übergriffen" die Rede sei, sagten die beiden Anwältinnen, gehe es nicht nur um Berührungen. Der Missbrauch sei sexualisiert gewesen und reiche bis hin zu Geschlechtsverkehr, auch Oral- und Analverkehr, bis hin zu Vergewaltigungen.

Und immer wieder, resümierten die beiden Anwältinnen, hätten die Opfer nirgendwo Ansprechpartner gefunden. An Beratungsstellen mangele es bis heute. Den Anwältinnen sind Opfer bekannt, die sich seinerzeit an acht erwachsene Personen wandten, um Hilfe zu erhalten - ohne sie zu bekommen.

(DDP/nbe)
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