Über das Chaos der Gefühle nach der ersten gemeinsamen Nacht Der Morgen danach: Von feigen Rittern...

Düsseldorf · Soziologie Jean-Claude Kaufmann hat das Chaos der Gefühle am Morgen nach der ersten gemeinsamen Nacht untersucht. Sein Fazit: Wenn Liebe entsteht, ist das nicht zwangsläufig auch romantisch.

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Foto: Screenshot Instagram / eligioch

Es ist schon komisch, wie Liebe beginnt. Colombine hätte an diesem Morgen vermutlich keine fünf Franc mehr auf den Typen gesetzt, mit dem sie eben nach leidenschaftlicher erster Nacht aufgewacht war. Sie saß nackt auf einem Stuhl, und Franck stand hüftsteif und in T-Shirt und Unterhose vor ihr. "Schmeckt das Schoko-Croissant?" "Ja, ist lecker." Beide krümelten stumm den Blätterteig auf den Boden.

Absurdes Theater. Und ein Anfang: Colombine und Franck leben seit vier Jahren zusammen. Man weiß als modernes Individuum oft selbst gar nicht mehr, wo Flirt aufhört und Liebe beginnt. Gut also, dass es an der Pariser Sorbonne den Soziologen Jean-Claude Kaufmann gibt. Der beschäftigt sich in seiner aktuellen Studie "Der Morgen danach" mit dem Entstehen von Liebe. Die 24-jährige Colombine ist eine von 23 Personen, zumeist zwischen 20 und 30 Jahren, die Kaufmann befragt hat. Er ließ sich von ihnen den Ablauf des Morgens nach der ersten Liebesnacht schildern.

Denn zu diesem Zeitpunkt, so Kaufmann, sei ein Paar noch kein Paar, und alles ist möglich. Aus fast allen Berichten las Kaufmann einen allgemeinen Eindruck der Scham. Die Menschen empfanden den Zustand nach dem Aufwachen als Schwebe - der Zeit und dem Gewöhnlichen entrückt. Sie waren unsicher, ob sie sich richtig verhalten. Nach dem Aufstehen verschärfte sich die Lage: Das Refugium Bett bot noch Geborgenheit; Bad, Zimmer und Frühstückstisch waren hingegen die wirkliche Welt. Plötzlich musste man handeln, sich entscheiden. Kaufmann vergleicht das Aufstehen deshalb mit dem Ende der Kindheit und dem Eintritt ins Erwachsenenalter einer Beziehung.

Für Männer ist dieser Übergang offensichtlich allzu hart, sie müssen das Ganze erstmal reflektieren. In Kaufmanns Buch gehen die Männer denn auch reihenweise Brötchen holen, um nachzudenken. Der Morgen danach ist laut Kaufmann das Heraufdämmern möglichen Beziehungsalltags. Man muss sich selbst zurücknehmen und mit den Gewohnheiten und Eigenarten des Anderen zurecht kommen. Davor, so Kaufmann, haben ganz viele Angst. Denn es hieße womöglich, die Orientierung im eigenen Leben einzubüßen. Die Zukunft einer Beziehung hänge vom Ausgang dieses Kampfes mit sich selbst ab: Wie sehr kann ich mich zurücknehmen? Ein harter Kampf.

Also wägen die Beteiligten ab: Lohnt sich der Aufwand? Die Antwort in diesen liebesfeindlichen Zeiten ist kein bedingungloses "Ja", sondern ein "Schaun mer mal". Und so entwickeln sich denn auch die meisten der geschilderten Beziehungen aus dem Morgen danach: beiläufig. Man bleibt zusammen, weil man sich nicht trennt. Kaufmann macht eine "Kultur des Unscheinbaren" aus. Junge Menschen praktizierten ein realistischeres, pragmatischeres Modell der Liebe als Vorgänger-Generationen, meint er. Die Paarbildung sei "ein Instrument der Bequemlichkeit und der Unterstützung" geworden.

Kaufmann findet in seinen Befragungen Indizien für den Verfall der romantischen Liebe. Aber das Ergebnis scheint ihm nicht zu gefallen. Aus seinen Sympathien fürs Romantische macht er keinen Hehl: Er sucht weiter nach der Stecknadel im Heuhaufen. Deshalb und allein schon wegen der geringen Zahl der Befragten, kann man die Wissenschaftlichkeit und die Repräsentativität von Kaufmanns Studie anzweifeln. Sie ist sicher eher eine Art akademische Doku-Erzählung aus dem Leben, ein ethnologischer Bericht aus dem Nationalpark der Liebesucher - aber gerade das macht sie spannend.

Kaufmann wird am Ende belohnt. Das eine großartige Gefühl, wie es die Romantik vorschreibt, gebe es zwar nicht mehr. Aber Spuren davon könne man in 1000 kleinen Emotionen finden, in die es zersplittert sei, so der Autor. Paare schönen in der Rückschau ihre prosaischen Liebsanfänge zu teil-romantischen Episoden. Natürlich ist das eine Verfälschung der Tatsachen. Kein Mann allerdings wird sich dagegen wehren.

Denn aus der feigen Flucht zum Bäcker wird plötzlich eine Heldentat - wie man aus dem Bericht der Kosmetikerin Marléne erkennt: "Du bleibst im warmen Bett und döst, und du weißt, dass er das für dich macht, dein edler Ritter. Er ist hinausgezogen in die Kälte, um seiner Liebsten Brötchen zu holen. Das ist schön!"

Literatur: Jean-Claude Kaufmann: "Der Morgen danach". UVK Verlagsgesellschaft, 290 Seiten, 24 Euro.

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