Historiker Michael Borgolte "Ein gesetzlicher Feiertag für Muslime"
Düsseldorf · Der Mittelalter-Historiker Michael Borgolte glaubt, dass Deutschland aus der Völkerwanderungszeit lernen kann: einen neuen Lebensstil statt Abschottung. Unter anderem schlägt er vor, über einen gesetzlichen Feiertag für Muslime nachzudenken.
Die Zahl der Menschen, die 2015 in Europa Zuflucht und ein besseres Leben suchten, übersteigt die Millionengrenze. Das Wort von der neuen Völkerwanderung ist deshalb in aller Munde; wer gegen Flüchtlinge Stimmung machen will, erinnert an den Untergang des Weströmischen Reichs im Jahr 476. Was jedoch damals geschah, wissen die wenigsten noch. Der Historiker Michael Borgolte spannt den Bogen von den Langobarden bis zur deutschen Angst vor dem Islam.
Was sagt der Historiker zum Begriff der neuen Völkerwanderung?
Borgolte Angesichts dieser massenhaften Zuwanderung ist das durchaus nachvollziehbar, beruht aber auf falschen Voraussetzungen.
Warum eigentlich? AfD-Vizechef Alexander Gauland hat kürzlich von der Zeit gesprochen, "als das Weströmische Reich von den Barbaren überrannt wurde". Das klingt wie die klassische Interpretation.
Borgolte Das ist aber zunächst mal alles falsch - nur in Ausnahmefällen kann von Überrennen die Rede sein, und das Gleiche gilt für die Annahme organisierter Masseninvasionen. Richtiger ist es, sich Gruppen vorzustellen, die hintereinander hergezogen sind und dann in der Summe eine Bevölkerungsverschiebung verursacht haben. Diese Gruppen haben sich aber ethnisch immer wieder neu zusammengesetzt und getrennt.
Wie viele sind damals gewandert?
Borgolte Das ist sehr umstritten. Der Kirchenvater Hieronymus berichtet, 80.000 Germanen hätten den Rhein überquert. Und als die Langobarden 568 nach Italien einwanderten, sollen 100.000 Menschen gekommen sein - inklusive Frauen, Kinder und Greise. Die Zahl ist aber nicht belegt. Realistisch sind die 20.000 Sachsen, die die Langobarden begleitet haben sollen. Auf jeden Fall waren es keine Millionen. Die Maximalzahl für einzelne Wanderungen, von der die Forschung heute ausgeht, liegt etwa bei 80.000 bis 100.000 Menschen.
Also eine krasse Minderheit.
Borgolte Ja. Italien hatte im 6. Jahrhundert etwa fünf bis sechs Millionen Einwohner. Es geht also vielleicht um zwei Prozent der Gesamtbevölkerung - ähnlich wie heute, wenn zu 80 Millionen Deutschen eine Million Flüchtlinge kommt.
Wie konnten so wenige eine solch epochale Wirkung haben?
Borgolte Letztlich wissen wir das nicht. Es muss aber mit Organisationskraft zu tun haben und mit der Bereitschaft der aufnehmenden Bevölkerungen, sich neuen Kulturen zu öffnen. Und mit Gewalt, das will ich gar nicht in Abrede stellen.
Kam erst die Völkerwanderung oder erst der Niedergang Roms?
Borgolte Rom stellte zunächst barbarische Heerführer und deren Soldaten in seine Dienste, um die Grenzen zu sichern. Dadurch lernten die Germanen das gute Leben im Reich kennen; das hat dann eine Sehnsucht nach diesem Leben ausgelöst. Der Verfall der Zentralgewalt kam hinzu, schließlich verstärkte sich die Zuwanderung ins Reich, die zu einer politischen Neuorganisation führte.
Wer kam da? Die Armen oder die, die es sich leisten konnten?
Borgolte Die ersten Kundschafter waren vor allem Militärs und Diplomaten, also eher Angehörige der Oberschicht. Dann aber zogen alle mit - das war eine echte Migration: Man gab die Heimat auf und konnte nicht mehr zurück.
Gab es demografische Notwendigkeit? Germanischen Geburtendruck?
Borgolte Nein. Insgesamt kann davon keine Rede sein.
Warum ist "Völkerwanderung" heute überhaupt noch ein Begriff für die politische Auseinandersetzung?
Borgolte Unser Wort ist ja noch harmlos. Briten, Franzosen und Italiener sprechen von der Invasion der Barbaren, was den kulturellen Zusammenbruch betont. In Deutschland gibt es die panische Angst vor dem Verlust von Kultur und Selbstbestimmung und davor, einen Prozess nicht mehr administrativ beherrschen zu können. Da erscheint der Nationalstaat vielen als Sicherung gegen das Chaos. Dabei war die Völkerwanderung größtenteils gar kein chaotischer Vorgang. Und obendrein kannten sich ja beide Seiten - Germanen waren Roms Helfer und Gegner zugleich.
Schon Jahre vor der Flüchtlingskrise hat Guido Westerwelle von "spätrömischer Dekadenz" in Deutschland gesprochen. Wer war damals dekadent, und wer ist es heute?
Borgolte Dekadenz ist ein moralisierender Kampfbegriff, der nicht weiterhilft. Verfallserscheinungen gibt es in jeder Gesellschaft, Innovationen auch. Das ist so richtig wie banal. Die Frage ist, welche Mentalität sich so verfestigt, dass daraus politischer Handlungsdruck wird.
Ihr britischer Kollege Niall Ferguson hat die Anschläge von Paris auf moralischen Verfall zurückgeführt.
Borgolte Ich sehe das nicht. Die europäischen Staaten, besonders Deutschland, befinden sich auch nicht annähernd in einem so desolaten Zustand wie das Römische Reich damals. Meine Studenten sind voller Dynamik und Zuversicht, die kulturellen Herausforderungen zu bestehen. Sie freuen sich sogar darauf, sie lernen zum Beispiel unaufgefordert Arabisch. Das ist nicht dekadent, sondern realistisch. Kultur ist ein ständiger Änderungsprozess, Stillstand gibt es nicht, Sesshaftigkeit ist weltgeschichtlich betrachtet ein Ausnahmephänomen. Das ist der Gang der Dinge.
Hinter Dekadenz-Vorwürfen steckt doch aber immer auch eine religiöse Dimension, die sich um Islam und Christentum dreht.
Borgolte Tja - früher war es die "rote Gefahr", heute der Islam.
Was bedeutet das? Irgendein Schreckbild brauchen wir eben?
Borgolte Ja. Natürlich gibt es auch echte Konflikte, die so alt sind wie die Religionen selbst. Vor allem werden da aber alte Muster neu belebt, die sich nur neue Inhalte suchen - wie die Angst vor dem Islam.
Was lässt sich aus der Völkerwanderung für unseren Umgang mit der Flüchtlingskrise lernen?
Borgolte Erstens, dass wir solche Bewegungen allenfalls lenken, aber nicht aufhalten können. Zweitens, dass wir aber viel tun können, damit dieser Prozess fruchtbar wird. Wir dürfen die Neuankömmlinge zum Beispiel auf keinen Fall in Ghettos abschieben, wie es die Franzosen mit den Banlieues gemacht haben. Die Begegnung mit den Einheimischen muss möglichst eng sein. Nur so können beide Seiten erkennen, dass sie voneinander profitieren - wenn sie bereit sind, sich zu ändern.
Was heißt das konkret?
Borgolte Ich könnte mir vorstellen, dass man, wenn der Anspruch der muslimischen Mitbürger auf Partizipation zunimmt, etwa das muslimische Zuckerfest als gesetzlichen Feiertag einführt. Das würde unser Bewusstsein sehr grundsätzlich ändern, da dann neben politische und christliche Feiertage muslimische träten. Das ist natürlich reine Spekulation, aber ohne Änderung unseres Lebensstils wird es nicht gehen.
Helfen Zäune? Der Limes hat ein paar Hundert Jahre gehalten.
Borgolte Im Prinzip nein. Zäune mögen die Ströme kanalisieren, aber sie können Leute, die so verzweifelt sind, dass sie für ihre Kinder keine Zukunft in ihrer Heimat sehen, nicht daran hindern, anderswo ihren Lebensmittelpunkt zu suchen. Dauerhafte Abschottung macht die Konflikte nur noch schlimmer.