Jugendämter schreiten häufiger ein Mehr Kinder leiden unter Gewalt und Vernachlässigung

Wiesbaden · Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, bei denen die Jugendämter eine Gefährdung feststellen, steigt. Die Gründe: Misshandlung, Vernachlässigung, sexuelle Gewalt. Der Kinderschutzbund ist alarmiert.

 Ein Kind sitzt auf einer Schaukel (Symbolfoto).

Ein Kind sitzt auf einer Schaukel (Symbolfoto).

Foto: dpa

Im vergangenen Jahr stellten die Jugendämter bei rund 50.400 Minderjährigen eine Kindeswohlgefährdung fest, wie das Statistische Bundesamt am Dienstag mitteilte. Das sind zehn Prozent mehr als 2017. Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, bezeichnete die Zahlen als „alarmierend“. Er fordert, die Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen.

Einen leichten Rückgang verzeichnete die Statistik dagegen im Bereich Kinderarmut. So sank die Zahl der unter 18-Jährigen, die hierzulande von Armut oder sozialer Ausgrenzung gefährdet sind, auf 2,4 Millionen - das waren sechs Prozent weniger als im Vorjahr. Zudem konnten sich auch wieder mehr Haushalte mit Kindern eine einwöchige Urlaubsreise leisten. Gaben 2017 noch 15,5 Prozent der Menschen an, dass das finanziell nicht möglich sei, waren es ein Jahr später nur noch 13,4 Prozent.

Der Anteil der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Minderjährigen ging von 18 Prozent auf 17,3 Prozent zurück. Das sei der niedrigsten Werte seit mehr als zehn Jahren, hieß es.

Und wie sieht es in anderen europäischen Ländern aus? Laut Eurostat - dem Statistischen Amt der Europäischen Union - liegt der durchschnittliche EU-Wert bei 24 Prozent. Besonders hoch ist der Anteil in Rumänien (38 Prozent), am niedrigsten in Slowenien (13 Prozent).

Ein Mensch gilt nach der EU-Definition als armutsgefährdet, wenn er über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt. Für eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren liegt die entsprechende Grenze bei 2385 Euro im Monat.

Für den Kinderschutzbund gehen die Zahlen an der Realität vorbei. Das sehe man schon daran, dass drei Millionen Kinder Sozialleistungen zur Sicherung des Existenzminimums bezögen und vier Millionen Anspruch darauf hätten, so Hilgers. Kinderarmut mache sich vor allem in drei Bereichen bemerkbar: In der Bildung, der sozialen Teilhabe und der Gesundheitsvorsorge.

Michael Klundt, Professor für Kinderpolitik im Studiengang Angewandte Kindheitswissenschaften von der Hochschule Magdeburg-Stendal, sagte: „Es ist ein enormes Armutszeugnis, dass wir angesichts des Reichtums in Deutschland in diesem Ausmaß mit Kinderarmut, Gewalt und Vernachlässigung zu tun haben.“ Da könne man bei den vorhandenen finanziellen Mitteln klar entgegenwirken.

Im Zusammenhang mit der gestiegenen Kindeswohlgefährdung wurden laut der Statistik des Bundesamts auch mehr Minderjährige in Obhut genommen. In 6200 Fällen geschah dies aufgrund von Misshandlungen, in 6000 Fällen wegen Vernachlässigungen und in 840 Fällen aufgrund von sexueller Gewalt.

Aber wie kann sich die Situation für die Minderjährigen verbessern? Die ganze Gesellschaft brauche einen Bewusstseinswandel, sagte Hilgers. „Wenn sie in Schweden ein Kind auf der Straße ohrfeigen, mischen sich gleich 20 Leute ein. Hier schauen immer noch zu viele weg.“ Deshalb sei es auch so wichtig, dass die Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen werden. Gegner würden mit der Privatheit der Familie argumentieren. „Aber Familie kann nicht privat sein, wenn es um Gewalt gegen Kinder oder auch gegen Frauen geht.“ Und: „Kinder sind nicht unser Eigentum, sondern Menschen mit Würde und eigenen Rechten.“

(jco/dpa)
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