Serie - Geheimnisse der Bibel (Teil 2) Markus, der erste Evangelist

Düsseldorf (RP). Es war eine epochale Idee, das Leben Jesu zu erzählen: Markus schrieb das erste, das älteste Evangelium. Es entstand um das Jahr 70 – also etwa 40 Jahre nach Jesu Tod. Markus war Jesus persönlich nicht mehr begegnet. Überliefert ist, dass Markus Dolmetscher von Petrus in Rom oder Mitarbeiter des Paulus gewesen ist.

 Eine von Martin Luther übersetzte Bibel aus dem Jahr 1535.

Eine von Martin Luther übersetzte Bibel aus dem Jahr 1535.

Foto: ddp

Düsseldorf (RP). Es war eine epochale Idee, das Leben Jesu zu erzählen: Markus schrieb das erste, das älteste Evangelium. Es entstand um das Jahr 70 — also etwa 40 Jahre nach Jesu Tod. Markus war Jesus persönlich nicht mehr begegnet. Überliefert ist, dass Markus Dolmetscher von Petrus in Rom oder Mitarbeiter des Paulus gewesen ist.

Ein Gedankenexperiment mag helfen: Wie erinnert man sich an Ereignisse, die vor 40 Jahren stattfanden? 1968: Studentenproteste. Der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King wird erschossen. In Vietnam findet das Massaker von My Lai statt. "Biafra" wird im Bürgerkrieg von Nigeria zum Inbegriff für Massensterben in Afrika. Vier Jahrzehnte Abstand ist für ein Menschenleben viel, für die Erinnerung aber wenig — sie fühlt die Zeit als Teil der eigenen Ära. Und so nahe dran an den Ereignissen der eigenen Ära war der Evangelist Markus. Sein Evangelium entstand um 70 nach Christus; Jesus wurde um 30 gekreuzigt.

Es ist wichtig, sich dies vor Augen zu halten, wenn man einen Blick auf die rasante Deutungsgeschichte der Evangelien wirft. Im 19. Jahrhundert gab es viele Versuche, aus den Evangelien biographische Entwürfe über Jesus herauszudestillieren — bis hin zu Psycho-Skizzen. Es war wie ein Schock, als Albert Schweitzer in seinem berühmten Buch "Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" (1906) zu dem Schluss kam, dass die Evangelien als Quellen für eine Biographie nicht taugen, weil sie Bekenntnis zum Sohn Gottes sein wollten und nicht historisch genau. Das Pendel schlug scharf in die andere Richtung um: Den Evangelien wurde historische Zuverlässigkeit mehr und mehr abgesprochen. Auch das hat sich wieder geändert: Heute wird der Bekenntnis-Charakter der Evangelien gewürdigt, aber auch ihr Rang als geschichtliche Quelle. Es wäre ja auch völlig unplausibel anzunehmen, dass sie nicht präzise historische Erinnerungen bergen.

Markus ist der älteste der Evangelisten und kommt den Geschehnissen um Jesu Leben und Sterben zeitlich am nächsten. Wer war dieser Mann? Der Kirchenvater und Bischof Papias (er starb im Jahr 140) notierte als erster, dass Markus ein Dolmetscher des Petrus war. Beweisen lässt sich das nicht; wahr daran ist wohl, dass Markus Jesus nicht mehr persönlich gekannt hat. Vermutet wird, dass Papias sich auf eine Stelle im ersten Petrus-Brief bezieht, in der ein Markus erwähnt wird (1. Petrus 5, 13). Auch in der Apostelgeschichte wird ein Johannes Markus erwähnt, in den Paulus-Briefen taucht ein Markus als Mitarbeiter des Paulus auf. War Markus ein Apostelschüler?

Das Evangelium ist in Griechisch verfasst — dies und andere Eigenarten deuten auf einen griechisch-sprechenden Juden hin, der für nicht-jüdische Christen schrieb, die Palästina und damit das Lebensumfeld Jesu nicht kannten. Markus erklärt zum Beispiel jüdische Bräuche, etwa in Kapitel 7, wo Reinheitsgebote erläutert werden: "Wenn Juden vom Markt kommen, essen sie nicht, wenn sie sich nicht gewaschen haben. Und es gibt viele andere Dinge, die sie zu halten angenommen haben."

Wichtigste Indizien für die Datierung sind Hinweise auf die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 durch die Römer. Der Sturm auf Jerusalem war der Schlusspunkt eines vierjährigen Aufstandes. Heute noch sind neben dem Tempelberg die Reste zu sehen: mächtige Quadersteine mit Brandspuren — zwei Jahrtausende alte Zeugnisse eines furchtbaren Feuers. Zwei Stellen im Markus-Evangelium werden als Hinweise auf diese Katastrophe gesehen: das Zerreißen des Tempelvorhangs im Augenblick von Jesu Tod (Kap. 15, 38) und das Gleichnis von den bösen Weingärtnern, die den Sohn des Besitzers töten. Der Vater, so heißt es, "wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg anderen geben". Beide Sätze werden als Anspielungen auf die Zerstörung Jerusalems gedeutet.

Um diese Zeit lag die Abfassung einer solchen Schrift quasi in der Luft. Mündliche Tradition hatte zwar in einer Gesellschaft, in der die meisten Menschen nicht lesen konnten, eine hohen Stellenwert. Dennoch war um das Jahr 70 herum eine Phase erreicht, in der die Zeitgenossen Jesu langsam ausstarben und das Bedürfnis gewachsen sein mag, das, was man wusste von Jesus, aufzuschreiben. Das Christentum wuchs rasant — und damit wuchs der Druck, zu berichten, worauf sich der neue Glaube gründete.

Erinnerungen können eben auch verloren gehen — dieses Problem war den Menschen bewusst, wie eine Bemerkung von Bischof Papias zeigt: "Markus schrieb als Dolmetscher des Petrus sorgfältig alles auf, was er im Gedächtnis behalten hatte, jedoch nicht der Reihe nach, denn er hatte den Herrn weder gehört, noch begleitet." Im Kern nimmt Papias Markus vor dem Vorwurf in Schutz, nicht alles akkurat aufgeschrieben zu haben. Es gab also das Bestreben, die Geschichte Jesu genau wiederzugeben — ebenso wie die Einsicht, dass dies aus dem Abstand von vier Jahrzehnten mit Schwierigkeiten behaftet ist.

Gleichwohl ist Markus kein Chronist mit Mängeln, sondern ein Denker, der ein geniales Stück Theologie und eine neue Literaturgattung geschaffen hat: die Evangelien. Markus' epochale Erkenntnis war: Das Erzählen vom Leben Jesu ist Theologie pur, Ausdruck von Fassungslosigkeit darüber, dass man in diesem Menschen Gott begegnet ist. Und so fiel der epochale erste Satz: "Dies ist der Anfang der frohen Botschaft von Jesus Christus." Der Begriff "Evangelium" (gute Nachricht) wurde rasch zur Gattungsbezeichnung für diese Art Schriften über Jesus.

Wie arbeitete Markus? Er war zunächst Sammler. Sein Material war ein Strom aus Überlieferung mit Sprüchen Jesu und biographischen Notizen über ihn. Markus formt darauf ein neues Ganzes. Die Erzählung setzt bei der Taufe durch Johannes ein, konzentriert sich also auf die drei Jahre des öffentlichen Wirkens Jesu bis zu seiner Hinrichtung. Von den 15 Kapiteln sind allein fünf der Passion in Jerusalem gewidmet, also den letzten Tagen im Leben Jesu. Das ist Theologie pur: Die Leben-Jesu-Erzählung ist achternlastig. Sie setzt dort ein, wo das Drama der Heilsgeschichte zum Ziel kommt.

Erst viel später entstanden so genannte Kindheitsevangelien mit Wunder-Geschichten über den Jesusknaben — wie er etwa Vogel-Figuren aus Ton Leben einhauchte. An solchen Unterschieden wird die Strenge spürbar, mit der Markus arbeitete — er verstand sich als Theologe im Dienst des Evangeliums, nicht als Dichter. Und man versteht, warum sein Evangelium schnell zu den kanonischen, den heiligen Schriften der Christenheit zählte. In der Kunstgeschichte wuchs ihm als Symbol der geflügelte Löwe zu. Diese Wahl geht auf eine Stelle in der Johannes-Offenbarung zurück, wo von vier Gestalten die Rede ist, die den Thron Gottes umlagern — darunter ein Löwe.

Markus, der Löwe zu Füßen Gottes — mit seiner Schrift, die gerade einmal 25 Buchseiten umfasst, ist er unsterblich geworden.

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