Serie - Geheimnisse der Bibel (Teil 4) Lukas — der erste Geschichtsschreiber

Düsseldorf (RP). Evangelium und Apostelgeschichte: Lukas hatte als Erster erfasst, dass sich vor seinen Augen Weltgeschichte abspielte. Die Ausbreitung des Christentums war trotz der Verfolgungen nicht zu stoppen. Ein Grund war die Schwäche der alten Religionen: Wer glaubte eigentlich noch ernsthaft an Zeus?

 Eine von Martin Luther übersetzte Bibel aus dem Jahr 1535.

Eine von Martin Luther übersetzte Bibel aus dem Jahr 1535.

Foto: ddp

Ob Lukas wirklich ein Arzt gewesen ist, wie man lange annahm, ist unsicher. Sicher ist: Er war ein gebildeter Mann, er lebte außerhalb Palästinas in einer Stadt des römischen Imperiums — und er muss sehr gründlich über die erstaunliche Erfolgsgeschichte des Christentums nachgedacht haben. Er hat wohl als Erster klar erfasst, dass sich vor seinen Augen Weltgeschichte abspielte — nicht nur als geglaubte Heilsgeschichte, sondern auch als Veränderung der alten, der römischen, der heidnischen Welt. Und so wurde er zum ersten christlichen Geschichtsschreiber. Der Erfolg des Christentums war zu seinen Lebzeiten schon rätselhaft: Was mit einer Hinrichtung in der Provinz begann, erreichte nur 20 Jahre später Rom, das Herz der Welt. Die Frage lag auf der Hand: Warum ausgerechnet das Christentum?

Lukas begann um das Jahr 90 herum mit der Arbeit an seinem Doppelwerk — Evangelium und Apostelgeschichte. Das Christentum hatte sich bis dahin rasant ausgebreitet. Die Missionsreisen des Paulus lagen drei Jahrzehnte zurück. Rom hatte unter Nero die erste Christenverfolgung erlebt, die so brutal war, dass es sogar innerrömische Kritik daran gab. Dennoch wuchs und wuchs die neue Religion, und zwar keineswegs, wie gerne gesagt wird, nur unter dem einfachen, armen Volk, sondern auch unter den Gebildeten und in der Oberschicht.

Lukas selbst ist dafür ein Beispiel: Ob Arzt oder nicht, er war ein gebildeter Städter, und Bildung war immer ein Indiz für Wohlstand. Sein Evangelium widmet er einem gewissen Theophilus — für ihn, den "hochgeehrten Theophilus", habe er alles in guter Ordnung aufgeschrieben, "damit du den sicheren Grund der Lehre erfährst, in der du unterrichtet bist". Auch Theophilus wird nicht irgendwer gewesen sein, sondern zur gesellschaftlichen Elite gezählt haben. Diesen Befund muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, um seine Seltsamkeit zu schmecken: Die Gebildeten neigten einer neuen Religion zu, die sich auf einen hingerichteten Verbrecher berief.

Doch gerade darin liegt ein Ansatz, um den Erfolg des Christentums historisch zu verstehen. Eine entschiedene Stärke der neuen Religion war die Schwäche der alten. Der römische Himmel war bekanntlich bevölkert von vielen Göttern. Wer glaubte eigentlich noch daran? Man darf sagen: Unter den Gebildeten wird es kaum jemand gegeben haben, der auf die Existenz von Jupiter, Neptun und Minerva auch nur eine römische Sesterze gegeben hätte. Längst hatte die griechische Philosophie den Glauben an die Götterwelt einer gnadenlosen Kritik unterzogen. Der Gottesbegriff der Philosophen war so abstrakt, dass er wirklich nur noch Begriff und kaum noch Gott war. Wenn Denker wie Plato, Parmenides, Aristoteles oder Plotin über das Göttliche redeten, dann klang das so: Gutheit; Unwandelbarkeit; Wahrhaftigkeit; das eine, ewige, unbewegte, leidlose Sein; das Überseiende; das Bestimmungslose; das Ewige, das Über-geistige. So ergab sich im römischen Reich ein seltsames Bild: Die staatlich propagierte Vielgötterei wurde in der gebildeten Oberschicht nur noch belächelt.

Auch die einfache Bevölkerung dürfte ihre Zweifel gehabt haben. Ein Indiz dafür ist das Vordringen zahlloser Geheimkulte und Astrologie-Lehren im römischen Reich. Beide sind ein sicheres Zeichen für eine tiefe weltanschauliche Krise: Die Welt wurde als unübersichtlich, unsicher empfunden, und die Menschen suchten Orientierung bei Kulten, die versprachen, die geheime Ordnung der Welt zu kennen. Die alte Götterwelt jedenfalls reichte dazu offenbar bei weitem nicht mehr aus.

Wie tief dieses Misstrauen war, zeigten nicht zuletzt die Christenverfolgungen. Unter Nero dienten die Christen noch als Sündenböcke für den Brand von Rom. Auslöser für spätere Verfolgungen war ein vergleichsweise formalistisches Detail: die Opferpraxis. Rom bestand darauf, dass seine Bürger den alten Göttern opferten und dem Staatskult die Ehre erwiesen. Wie hohl diese Praxis war, konnte man bei der großen Konstantin-Ausstellung im vergangenen Jahr in Trier studieren: Dort waren Opfer-Bescheinigungen ausgestellt — also offizielle Dokumente, die bescheinigten, dass der Bürger XY seiner Opferpflicht nachgekommen ist. Solche Bescheinigungen trugen mit dazu bei, dass die letzte große Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian im Jahr 303 ein grandioser Fehlschlag war. Das Ziel — den römischen Staatskult durchzusetzen — wurde verfehlt. Entweder kauften die Leute sich frei, oder es gab in manchen Regionen so viele Christen, dass man die Gegend hätte entvölkern müssen, wenn man alle hätte hinrichten wollen, die nicht den alten Göttern opferten.

Das Christentum profitierte nicht nur von der Schwäche der Vielgötterei — auch die hochab-strakte Gottheit der griechischen Philosophie war kein Quotenrenner bei den Menschen. In der Not betet es sich eben schlecht zu einem unbewegten Beweger, der in absoluter Gutheit fern der Welt in sich ruht. Dieser Gott der Philosophen lebte nur in akademischen Zirkeln. Das Christentum bot demgegenüber einen fundamentalen Neuansatz: In Jesus Christus trat Gott als Menschenbruder in Erscheinung — konkret genug, um in ihm sein Geschick wiederzuerkennen, doch ohne all die bisweilen albernen Zumutungen, die der römische Götterhimmel bereithielt.

Dazu kam eine Form der Weltoffenheit, die revolutionär war in einer Zeit, in der Religionen entweder exklusiven Charakter hatten — wie beim Judentum, das keine Mission kannte — oder durch Eroberung in die Welt getragen wurden wie bei den Römern. Dieser Machtgeschichte setzt gerade der Evangelist Lukas eine Ohnmachtsgeschichte entgegen: Jesus als Kind in der Krippe. Das hat fremd geklungen in einer Zeit, in der Kaiser wie Götter zu verehren waren.

Lukas setzt mit seinem Doppelwerk ein völlig neues Geschichtsbild gegen die übliche Art der Verquickung von Macht und Religion. Die Mitte der Zeit, die Mitte der Geschichte ist Jesus; danach beginnt etwas, das die Welt Zug um Zug verändert. Zug um Zug, das ist wichtig: Wenn Lukas von der Ausbreitung des Christentums berichtet, dann thematisiert er genau dieses seltsame Wachstum, das eben nicht mit Gewalt, sondern durch das Wort, durch Überzeugung verbreitet wurde. Diese Art Mission vertraute darauf, dass neben der Ordnung der Welt eine neue Ordnung wachsen könnte — die Heilsordnung der Kirche.

Lukas hat ihre Doppelgesichtigkeit als erster erkannt und reflektiert — darin ist er ein großer Theologe und ein großer Historiker. Denn in der Apostelgeschichte kann man nachlesen, dass sich die Kirche dem Heiligen Geist ebenso verdankt wie der Tapferkeit zahlloser Menschen. Die Kirche erscheint als Teil der Welt, aber ebenso als die große, heilige Fremde auf Erden. Die Kirche ist weltlich, also auch mit all den Fehlern des Weltlichen behaftet — und sie ist göttlich, weil der Leib Christi. Davon hat Lukas erzählt, und wer immer heute über das Wesen der Kirche nachdenkt, denkt auch über Lukas nach.

In der Kunstgeschichte wuchs ihm das Symbol des geflügelten Stieres zu — nach einer Stelle in der Offenbarung des Johannes. Es ist ein stolzes Bild: Das Stierbild war in den griechisch-römischen Mythen Gottvater Zeus vorbehalten, der in dieser Gestalt die schöne Europa entführte.

Der geflügelte Stier der jungen Christenheit kündete auch davon: Zeus' Zeit war abgelaufen.

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