Wohin würde Jesus heute gehen? Leben lernen in der Psychiatrie

(RP). Im Matthäus-Evangelium heißt es über Jesus: "Als er die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen und heilte die Kranken, die bei ihnen waren." Auch Alkoholsucht ist eine Krankheit. Betroffene können sich in einer Psychiatrie behandeln lassen. Etwa in der LVR-Klinik Viersen. Ein Besuch.

 Ritters Zimmer in der Psychiatrie.

Ritters Zimmer in der Psychiatrie.

Foto: RP. Andreas Krebs

Sie hat sich in dieses Haus gerettet, Nummer 15, das sonnengelbe, etwas höher gelegen in dem weitläufigen Park. Sie hat gehofft, dass sie dort aus ihrem alten Leben heraustreten kann. Endgültig. Und dass sie vielleicht verstehen wird, warum ihr Weg in diese Sackgasse geführt hat, warum sie sich plötzlich fühlte wie gefangen in einem engen dunklen Loch. Darum hat sie den Tag herbei gesehnt, an dem endlich ein Platz für sie frei werden würde in dem Haus an den Süchtelner Höhen. In der Psychiatrie von Viersen.

Agnieszka Ritter (Name von der Redaktion geändert) ist 40 Jahre alt, und es gab eine Zeit in ihrem Leben, da hätte das Wort Psychiatrie ihr Angst gemacht. Das waren die unauffälligen Jahre, als sie heiratete, ihren Sohn bekam, das Leben seinen Gang ging. Sie hat viel gearbeitet in dieser Zeit. Als Reinigungskraft hatte sie meist mehrere Jobs parallel. Und daheim war sie für die Familie da. Oft kamen am Wochenende Verwandte aus der weitverzweigten Familie. Da hat sie dann aufgetischt für alle. Spezialitäten aus Polen, wo sie aufgewachsen ist. Alle haben sich ihre Rouladen, Knödel, ihren Käsekuchen schmecken lassen. Arbeit, Familie, Haushalt — wie sie das alles immer geschafft hat, hat niemand gefragt.

Und irgendwann ist es nicht mehr bei einem Glas Wein zum Essen geblieben. Wenn der Stress beklemmend wurde, wenn es Schwierigkeiten mit dem pubertierenden Sohn gab, ist Agnieszka Ritter in die Beduselung geflohen. Der Alkohol hat die Schärfe aus dem Tag genommen, hat alles ein bisschen dumpfer gemacht, besser zu ertragen. "Dann ist meine Mutter schwer krank geworden", erzählt Ritter, "sie ist ins Koma gefallen, die Ärzte haben sie aufgegeben, aber ich musste entscheiden, ob die Geräte abgestellt werden." Tränen steigen ihr in die Augen, als sie davon erzählt. Sie hat entschieden, was die Ärzte empfohlen haben, doch sie hat sich schuldig gefühlt. Verantwortlich für den Tod der Mutter. Und sie wusste nur ein Mittel, um diesem bohrenden Schuldgefühl zu entkommen. Damals hatte sie den ersten Absturz.

Agnieszka Ritter holt sich ein paar Papiertaschentücher vom Waschbecken. Sie sitzt im Zimmer ihrer Therapeutin, als die Tränen fließen, und sie schämt sich nicht dafür. "Das habe ich hier gelernt: über meine Gefühle zu sprechen ", sagt sie. "Das tut so gut. Früher habe ich ja immer alles für mich behalten, niemand sollte wissen, wie schlecht es mir geht."

Auch getrunken hat sie immer heimlich — wie viele Frauen mit einem Alkoholproblem. "In einer Wohnung gibt es ja so viele Orte, wo man Flaschen verstecken kann", sagt sie. "Ich habe getrunken, dann bin ich arbeiten gegangen und habe gehofft, dass niemand etwas merkt." Doch die Probleme hat der Alkohol nicht weggespült, und so gab es immer wieder Anlässe, die Wirklichkeit auszuschalten. Agnieszka Ritter hat sich von ihrem Mann getrennt, sich neu verliebt, doch der Freund hatte selbst ein Alkoholproblem, und so ist alles noch schlimmer geworden. Zwei Süchtige können einander nicht helfen. Sie zumindest konnten es nicht.

"Am Ende war ich so weit, dass ich mich nicht mehr schminken konnte, so haben meine Hände gezittert", sagt sie. "Ich bin nicht mehr arbeiten gegangen, meine Tage hatten überhaupt keine Struktur mehr." Vorstellen kann man sich das nicht, wenn man die zierliche beherrschte Frau heute sieht. Doch man ahnt, welchen Weg sie in der Psychiatrie zurückgelegt hat, wenn man darauf achtet, wie sie von früher erzählt, wie sie Luft holt und dann in knappen Sätzen ausspricht, was sie sich lange nicht eingestehen konnte. Ohne drumherum zu reden. Sie ist erwacht in der Psychiatrie. So drückt sie selbst es aus. Und nun ist die LVR-Klinik am Rande von Viersen ihr "Schutzraum", ihre Schule für das neue Leben.

Agnieszka hält die Tür auf. Sie lässt immer anderen den Vortritt. Es ist jetzt Zeit für die Frauengruppe. In einem größeren Raum auf der Station stehen bunt karierte Stühle ringsum an den Wänden. In einer Ecke ist ein Tannenbaum geschmückt, dort haben sich die anderen Frauen aus der Langzeittherapie schon versammelt. Es gibt Kaffee. Iris Seidel, die Stationsärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, eröffnet das Gespräch. Sie schlägt vor, über Situationen zu sprechen, in denen die Frauen Lust auf Alkohol bekommen. Suchtdruck nennen sie das hier. Eine erzählt vom Weihnachtsmarkt und dem penetranten Glühwein-Duft dort. "Wenn ich da Leute in Grüppchen stehen sehe, und die trinken und lachen, dann bekomme ich eine furchtbare Wut auf mich, weil ich nicht mehr dabei stehen könnte", sagt sie. "Aber ich weiß, dass ich nach einem Becher nicht aufhören würde."

Die anderen nicken. Sie kennen das alle: die guten Vorsätze, dann die Depressionen, die Rückfälle, die Scham, die Wut, die Verzweiflung. Sie haben in der Frauengruppe darüber gesprochen, in der gemischten Gruppe, in den Einzelsitzungen mit ihren Therapeuten. Gespräch um Gespräch sind ihnen die Muster ihrer Sucht klar geworden. Sie haben nach den Ursachen gesucht und nach Wegen, den falschen Gewohnheiten zu entkommen. In der LVR-Klinik Viersen werden viele psychische Erkrankungen behandelt — Alkoholismus ist eine davon. 16 Wochen dauert die Langzeittherapie. Den harten Entzug haben die Menschen dann schon hinter sich. Den langen Weg in ein abstinentes Leben vor sich.

Heute erzählen die Frauen von den Momenten, als Alkohol für sie noch ein Genussmittel war, von romantischen Wannenbädern bei Kerzenschein und dem Glas Sekt. Oder der Belohnung nach dem harten Tag. Oder dem Cognac vor dem Kochen, damit das Essen auch gelingt. Immer lebhafter wird das Gespräch in der Gruppe. Man kann hier erzählen, wie es war, und muss keine Ablehnung fürchten. "Die Gruppe macht mich stark", wird Ritter später sagen. Und dass sie wieder an eine Zukunft glaubt, seit sie weiß, dass sie nicht alleine kämpft.

Einmal ist sie wieder in ihrer Wohnung gewesen. Nach sechs Wochen in der Langzeittherapie fühlte sie sich stark genug dafür. Kalt sei es dort gewesen, und sie habe sich fremd gefühlt. Agnieszka Ritter schaut zu Boden, schweigt eine Weile. Dann erzählt sie, wie sie in den Keller gegangen ist. Wie sie die versteckten Flaschen hervorgeholt hat. Wie sie die Deckel aufgeschraubt hat. "Ich wollte trinken. Doch dann habe ich alles ausgegossen. Alles weg." Sie sei danach stolz auf sich gewesen. Seit langem einmal wieder.

Es riecht nach Farbe im Malersaal. Ein Mann mischt Gelbtöne auf einem Teller, ein anderer tackert Leinwand auf einen Rahmen. In den Ergotherapie-Räumen der Psychiatrie hat Agnieszka Ritter langsam zu sich gefunden. "Es hat mir gut getan, mich nach langer Zeit wieder auf etwas zu konzentrieren", erzählt sie.

Sie hat Leinwände grün grundiert, chinesische Schriftzeichen darauf gemalt. Die Zeichen für Glück, Kraft, Hoffnung. Die Bilder hat sie ihrem Sohn geschenkt. "Der hat sie aufgehängt", sagt sie und lächelt. "Ich hatte vergessen, wie gern ich so etwas mache."

Agnieszka Ritter kocht auch wieder für andere, für die Menschen in Haus 15, mit denen sie im Moment ihr Leben teilt. Und sie geht arbeiten. Zwei Stunden am Tag hilft sie in der Cafeteria auf dem Klinikgelände. Sie trägt dann eine bodenlange Schürze, wischt die Tische ab, spricht mit den Gästen aus der Klinik. "Ich hab' auch geholfen, die Fensterbilder anzubringen", sagt sie und deutet auf den Schneemann an der Scheibe. "Hier in der Klinik darf es ja keinen Tischschmuck geben, weil sich Patienten damit selbst verletzen könnten." Sie lächelt wieder. Sie fühlt sich wohl in dieser Welt, in der Schwächen akzeptiert sind. Sie fühlt sich sicher dort. Behütet.

Doch Agnieszka Ritter will auch zurück in die andere Welt. Bald wird sie umziehen in ein Wohnheim auf dem Klinikgelände, in dem sie ein eigenes Appartement haben und sich selbst versorgen wird. Sie wird ein Praktikum machen, sich wieder um eine Arbeitsstelle bewerben, eine Wohnung suchen, um ganz neu zu beginnen. Adaptionsphase nennt man das in der Klinik. "Aber ich lasse mir Zeit", sagt Ritter. Sich weit in die Zukunft vorzudenken, wagt sie nicht. Ihr Leben in zehn Jahren? Sie schweigt. "Das will ich mir nicht ausmalen", sagt sie dann, "auch das habe ich hier gelernt: Wenn ich zu schnell gehe, falle ich wieder in dieses Loch." Es ist die große Angst, die alle in Haus 15 kennen: Es könnte den Rückfall geben. Und dann wären hart erkämpfte Hoffnungen zerstört.

Auch Agnieszka Ritter hat diese Angst. Aber sie lässt sich davon nicht mehr in die Enge treiben. Sie hat jetzt die Gruppe, in der sie über ihre Ängste sprechen kann. Auch zu einer Selbsthilfegruppe in ihrer Heimatstadt hat sie schon Kontakt. Sie will nie wieder allein dastehen, wenn der Suchtdruck kommt.

Weihnachten wird sie mit ihrem Sohn verbringen, den Heiligen Abend und den ersten Feiertag. Und am zweiten wird sie in die Psychiatrie zurückkehren und mit den Menschen von ihrer Station zusammen sein. Sie freut sich darauf. Sie fühlt sich gerüstet dafür. Sie steht am Beginn ihres neuen Lebens.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort