Erfundener Tod eines Flüchtlings "Einer aus unserer Mitte hat gelogen"

Düseldorf · Entsetzen, Rücktrittsforderungen, Tränen: Der vermeintliche Tod eines Flüchtlings schlägt in Berlin hohe Wellen. Gestern machten die Sprecher vom Bündnis "Moabit hilft" die Zustände am Lageso für den Tod eines Menschen verantwortlich. Heute reden sie von "Verrat."

Was in aller Welt bewog den Flüchtlingshelfer Dirk V. dazu, quasi im Live-Modus das Sterben eines Flüchtlings zu schildern? Die Reaktionen die er damit auslöste waren hoch emotional. Ex-Pirat Christoph Lauer forderte den Rücktritt des zuständigen Senators Mario Czaja, Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) sagte, sie sei "unendlich traurig", ehrenamtliche Helfer des Bündnis Moabit vergossen Tränen, auf dem Gelände flackerten Trauerkerzen.

Doch all das war nach jetzigem Kenntnisstand nur Folge einer umfassenden Lügengeschichte. Dirk V. hatte am Dienstagabend detailreich in einem Chat mit einer Freundin über das Sterben eines 24-jährigen Syrers berichtet. Das Gespräch machte diese öffentlich.

Entsetzen unter den Helfern

Flüchtlinge: Skandalöse Zustände am Lageso in Berlin
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Flüchtlinge: Skandalöse Zustände am Lageso in Berlin

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Foto: dpa, mkx

Unter den ehrenamtlichen Helfern, die tagtäglich mit dem Elend am berüchtigten Lageso zu tun haben, griff daraufhin das Entsetzen um sich. "Seit einem halben Jahr helfen wir, rennen, pflegen, ernähren, versorgen, heilen… und sagen immer wieder, es wird Tote geben, wenn das so weiter geht", kommentierte die Freundin bei Facebook. Der vermeldete Tod des Flüchtlings war die Katastrophe, vor der sie doch immer gewarnt hatten.

24 Stunden später hat sich die Lage komplett gedreht. "Wir fühlen uns verraten", teilte Diana Henniges als Sprecherin der Initiative am Donnerstagmorgen bei einer Pressekonferenz vor dem Lageso mit, wie Berliner Medien in Livetickern dokumentieren. Am Mittwoch hatte sie noch orakelt, es bedeute für die freiwilligen Helfer eine Katastrophe, sollte die Geschichte erlogen sein. Sie war es.

Die halbe Hauptstadt versuchte herauszufinden, was wirklich geschehen war. Am Donnerstagmorgen bestätigte unserer Redaktion die Polizei: Der Tod des Syrers war erfunden, bisher habe sich auch kein Flüchtling identifizieren lassen, den Dirk V. in seinen Schilderungen gemeint haben könnte.

"Jemand in unserer Mitte hat gelogen", heißt es jetzt beim Helferbündnis. Sie sei "stinksauer", zitiert der "Tagesspiegel" Sprecherin Henniges. Dirk V. schulde "jedem in dieser Stadt" eine Entschuldigung. Der Fassungslosigkeit ist umso größer, weil der Helfer das volle Vertrauen der Gruppe hatte. Er hatte eine Art Promi-Status, war wegen seines Einsatzes für Flüchtlinge mehrfach in den Medien. Die "Welt" erzählte einmal in einem Porträt, wie er 24 Flüchtlinge bei sich aufnahm, in einer Zweizimmerwohnung.

Insofern gab es offenbar keinen Anlass, an seiner Glaubwürdigkeit zu zweifeln. Zumal es bei den Zuständen am Lageso unter den Helfern als möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich galt, dass es einmal zu einem Todesfall kommen könnte. Auch am Donnerstagmorgen verweist die Sprecherin darauf. Die Geschichte war "nicht ganz so unwahrscheinlich", betont sie. "Das kann sich jeder Helfer, jeder Politiker und jeder Pressevertreter hier mittlerweile vorstellen." Auf Facebook postete das Bündnis Moabit einen Auszug aus einem Kommentar. "So verworren der Fall ist, eine Erkenntnis gibt es. Niemand — nicht die Politik, nicht die Helfer, nicht die Presse — hat den Tod eines Menschen am Berliner Lageso auch nur einen Moment lang für unwahrscheinlich gehalten."

Auszug aus dem Tagesspiegel..."So verworren der Fall ist, eine Erkenntnis gibt es. Niemand — nicht die Politik, nicht...

Nun aber stehen die vielen Freiwilligen Helfer vor einem Scherbenhaufen. Das Vertrauen in ihre Arbeit hat schwer gelitten. Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) kritisierte "Moabit hilft" scharf. Es habe ungeprüft Gerüchte weiterverbreitet und damit auch vielen Ehrenamtlichen geschadet, die wichtige Arbeit leisteten. "Wer solche Gerüchte streut und ungeprüft weiterverbreitet, legt es bewusst darauf an, die Stimmung in unserer Stadt zu vergiften."

Dass das Bündnis den Todesfall am Mittwoch bestätigt hatte, "war ein Fehler", räumt auch die Sprecherin ein. "Es war tatsächlich aus diesem Vertrauensverhältnis heraus. Wir haben da auf Deutsch gesagt echt Mist gebaut."

Am späten Abend Gewissheit

Genau das ist es, was woran es jetzt in Berlin eklatant mangelt. Vertrauen. Das Bündnis Moabit erlebte am Mittwoch den größtmöglichen Absturz. Und gerät selbst in Misskredit. Allem Elend, was die Helfer vom Lageso berichten, wird künftig ein Zweifel anhaften. Aus der Empörung am Mittwoch wurde das Eingeständnis von eigenem Mitverschulden am Donnerstag. Zuvor war man davon überzeugt, dass die Anschuldigungen zutrafen. Noch am Abend in einem Interview mit dem rbb ging das Bündnis vom Tod des Flüchtlings aus. Zeitgleich versuchten schon Freunde und Kollegen mit wachsender Verzweiflung Dirk V. in seiner Wohnung zu erreichen. Erst am Abend sprach er mit Polizeibeamten. Am späten Abend teilten die über Twitter mit: "Der Mann hat erklärt, er habe sich die Geschichte ausgedacht."

Wo Dirk V. sich im Moment aufhält , ist unklar. Verhaftet wurde er nicht. "Die Kollegen haben am Abend die Wohnung verlassen, das war's", erklärte eine Sprecherin der Polizei. Auch vom Bündnis Moabit heißt es, er sei regelrecht abgetaucht. Nur indirekt sind am Donnerstag Lebenszeichen zu registrieren. Mal ist sein Facebookprofil gelöscht, dann ist es wieder online. Letztes Posting: Ein Appell vom 14. Januar, für Willkommensrucksäcke für Flüchtlinge zu spenden.

Zwischenzeitlich war auf der Seite offenbar ein Versuch einer Entschuldigung zu finden. Er habe wegen "Überbelastung" so gehandelt, sei "leicht betrunken" gewesen. Am Donnerstagmittag ist das Profil wieder deaktiviert. "Bild" zeigt einen Screenshot, der angeblich das Posting zeigt. Darin heißt es unter anderem: "Seit einigen Wochen merke ich zunehmend, dass mich mein ehrenamtliches Engagement mehr und mehr an die Grenzen der psychischen und auch körperlichen Belastung bringt." Weiter bittet der Verfasser aus "tiefstem Herzen" um Entschuldigung.

Nun muss er mit ernsten Konsequenzen rechnen. Henkel forderte, rechtliche Konsequenzen gegen den Urheber der vorgetäuschten Geschichte zu prüfen. Das Bündnis Moabit will seine Arbeit auf den Prüfstand stellen. Bisher gründete es seine Kraft auf Idealismus und Vertrauen. Nun gibt es offenbar erste Absatzbewegungen. Laut N24 gehen zahlreiche Helfer auf Distanz, bei Facebook sieht sich das Bündnis scharfer Kritik von Nutzern ausgesetzt. "Man sollte rechtliche Schritte gegen euch Hohlköpfe überlegen. Wie kann man OHNE jegliche Bestätigung dritter etwas von solcher Brisanz veröffentlichen aufgrund der Aussage EINES EINZIGEN Individuums?", schreibt einer.

Unterstützung bekam das Bündnis derweil durch Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke). Er rief am Donnerstag im rbb-Inforadio dazu auf, solchen Gerüchten "den Boden zu entziehen". Erforderlich seien wirksame Maßnahmen, die Lage der Flüchtlinge zu verbessern. Es reiche nicht aus, "immer neue Asylpakete zu erfinden".

(pst)
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