„Letzte Generation“ Klimaaktivisten vor Reichstag weiter im Hungerstreik

Berlin · Sie nennen sich „die letzte Generation“, der Politik werfen sie „Mord“ und „Verrat“ vor: Der Hungerstreik einiger junger Aktivisten bringt die Kanzlerkandidaten vor der Bundestagswahl in eine Zwickmühle.

 Zwei Klimaaktivistinnen vor dem Camp in der Nähe des Reichstagsgebäudes. Seit 17 Jahren befinden sie sich im Hungerstreik.

Zwei Klimaaktivistinnen vor dem Camp in der Nähe des Reichstagsgebäudes. Seit 17 Jahren befinden sie sich im Hungerstreik.

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Simon Helmstedt ist ein schmaler junger Mann mit blassblauen Augen und blondem Pferdeschwanz. Schon vor zwei Wochen, an Tag drei seines Hungerstreiks für eine radikale Klimawende, wirkte der 22-jährige Biologiestudent hohlwangig, hager, geschwächt. Jetzt kann sich Helmstedt kaum noch auf den Beinen halten. Er sitzt am Dienstagvormittag auf einem Plastikstuhl auf der Wiese im Klimacamp in der Nähe des Berliner Reichstags. „Die letzten drei Tage waren hart“, sagt Helmstedt. Er habe ans Aufhören gedacht. „Aber... nein.“ Die Ziele seien noch nicht erreicht. Es geht weiter.

Die Ziele der sechs Hungerstreikenden - das ist zum einen ein öffentliches Gespräch mit den drei Kanzlerkandidaten über die Klimakatastrophe, zum anderen die Einsetzung eines Bürgerrats, der der Politik Sofortmaßnahmen zum Klimaschutz vorgeben soll. Die Angesprochenen - Armin Laschet (CDU/CSU), Olaf Scholz (SPD) und Annalena Baerbock (Grüne) - haben die Hungernden aufgefordert, die Protestaktion abzubrechen. Dann seien sie zu Einzelgesprächen bereit, nach der Bundestagswahl. Den Aktivisten reicht das nicht. Sie wollen einen „ehrlichen Austausch“ in aller Öffentlichkeit und vor der „Schicksalswahl“.

Die Forderungen der jungen Leute scheinen fast harmlos, gemessen an der Radikalität der Mittel. Die Aktivisten verweigern inzwischen nach eigenen Angaben auch verdünnte Fruchtsäfte, nehmen nur noch Wasser zu sich und Vitaminpillen. Bis zu neun Kilogramm hätten sie verloren, heißt es bei einer Pressekonferenz am Mittwochnachmittag. Am Vortag ist der 27-jährige Jacob Heinze so lange ohnmächtig, dass seine Gefährten die Ambulanz rufen und ihn in die Charité bringen lassen.

Doch bei der Pressekonferenz sitzt Heinze wieder neben seinen Mitstreitern auf einem Palettensofa im Zelt und sagt: Er macht weiter, gegen ärztlichen Rat. „Jeden Tag kommen wir näher an den Rand der Klippe“, sagt Heinze. Er meint die Klimakatastrophe. Aber es gilt wohl auch für die Gesundheit der Hungerstreikenden.

Auf Twitter hat Heinze geschrieben: „Seien wir ehrlich zueinander. Wir sind komplett am Arsch.“ Es blieben nur drei Jahre Zeit für die Klimawende, doch keine der Parteien bei der Bundestagswahl nehme die Gefahr von unumkehrbaren Kipppunkten ernst. Es gelte, „das tödliche Weiter-So zu verhindern. Es geht um alles.“

Die Wortwahl ist drastisch, die Verzweiflung spürbar. Sie nennen sich „die letzte Generation“, die noch etwas gegen den Klimawandel tun könne. Sie verweisen auf Erkenntnisse des Weltklimarats IPCC. Der Politik werfen sie „Verrat“ vor und „Mord an der jungen Generation“. Nach 30 Jahren Klimadebatte, nach drei Jahren Protest von Greta Thunberg, nach zwei Jahren Massendemonstrationen von Fridays for Future und Aktionen der Extinction Rebellion: Diese jungen Leute haben die Geduld verloren.

Bei Demonstrationen zur Automesse IAA in München gab es vorige Woche vereinzelt sogar Gewalt zwischen Protestierenden und Polizei. Verändert sich hier etwas Grundsätzliches, driften einige in der Klimabewegung ab? „Ich hoffe nicht, weil ich mag keine Gewalt“, sagt Aktivist Helmstedt. „Aber ich kann Menschen verstehen, die Gewalt anwenden, wenn ihr Leben bedroht ist. Und genau das ist es gerade.“

Der Hungerstreik, das betont Sprecherin Hannah Lübbert, sei komplett friedlich: „Wir tun niemandem etwas an, und wir drohen auch niemandem.“ Helmstedt sagt aber auch, gemünzt auf den Hungerstreik: „Wenn eine Politik komplett versagt, auch nur ansatzweise an der Realität zu sein, dann zwingt diese Politik zu radikalsten Mitteln.“

In das Urteil des Versagens schließt er selbstverständlich auch die Grünen ein - obwohl deren Politik womöglich vielen Wählern schon zu weit geht. „Es geht nicht darum, was politisch möglich ist, es geht darum, was physikalisch nötig ist“, sagt Helmstedt. Dass mit dem geforderten Bürgerrat das demokratisch gewählte Parlament zum Teil umgangen werden könnte, lässt er ebenfalls nicht gelten.

Helmstedt ist überzeugt, dass das Gremium, zusammengesetzt aus allen Teilen der Bevölkerung, genau die drastischen Klimaschutzmaßnahmen gut heißen würde, vor denen sich die Politik scheut - weil sie teuer sind oder Einschränkungen erfordern oder bestimmte Gruppen treffen würden. Die Erfahrung zeige, dass Bürgerräte so radikale Entscheidungen träfen, weil sie auf wissenschaftlicher Basis und ohne Lobbyinteressen im Hintergrund passierten, meint der junge Mann, der immer wieder lange Pausen im Gespräch lässt, offenkundig am Ende seiner Kräfte. Bei der Pressekonferenz am Mittwoch fehlt er.

Einen „Bürgerrat Klima“ gibt es schon, die Schirmherrschaft hat der frühere Bundespräsident Horst Köhler. Die 160 Mitglieder haben gerade Ergebnisse vorgelegt. Damit sollen die Ziele des Pariser Klimaabkommens von 2015 erreicht werden, was auch die Hungerstreikenden wollen. Die ganz schnelle Wende sieht dieser Bürgerrat aber nicht. So heißt es zum Beispiel: „Die gesamte Energieversorgung Deutschlands soll bis 2035 zu 70 Prozent und bis 2040 zu 90 Prozent aus Erneuerbaren Energien gedeckt werden.“

Für die Hungernden zählen erstmal die nächsten Tage. Weil sie mit den Büros von Laschet, Scholz und Baerbock nach eigenen Angaben nicht weiterkamen, setzten sie den drei Kandidaten kurzerhand selbst einen Termin für das geforderte öffentliche Gespräch: 23. September, drei Tage vor der Bundestagswahl. Der Hungerstreik soll weiter gehen, bis die drei zugesagt haben.

Doch Baerbock und Co sehen sich in der Zwickmühle, weil sie einerseits die jungen Leute nicht ignorieren können, andererseits aber auch keine Nachahmer wollen. „Trotz unterschiedlicher politischer Positionen stimmen Frau Baerbock, Herr Laschet und Herr Scholz darin überein, dass sie diese Art des Protests nicht angemessen finden“, erklärten die Grünen im Namen der drei Kontrahenten. An die Aktivisten appellierten sie: „Es ist wichtig, dass Sie Ihr Leben schützen. Die Gesellschaft braucht Ihr Engagement.“

(june/dpa)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort