Interview mit Annette Schavan "Kirche muss sich vor Selbstmitleid hüten"
(RP). Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) über Lehren aus dem Missbrauchs-Skandal der katholischen Kirche, Bildungsangebote für Kinder, die Rolle der Hauptschulen in Nordrhein-Westfalen und Forschungshilfen für den Mittelstand
Frau Schavan, wie betroffen sind Sie über den Missbrauchs-Skandal in der katholischen Kirche?
Schavan Natürlich bin ich entsetzt und zugleich besorgt über die Glaubwürdigkeitskrise, die entstanden ist. Die Kirche kann nun ein gutes Beispiel geben, wie man mit Schuld umgeht. Sexuelle Gewalt gegenüber Kindern und Jugendliche sind jedoch Verbrechen, die zu mehr als 90 Prozent im familiären Umfeld passieren.
Hat die katholische Kirche genug für die Aufklärung der Missbrauchs-Verbrechen getan?
Schavan Es war der Berliner Jesuit Klaus Mertes, der das Thema sexuelle Gewalt in die Öffentlichkeit gebracht hat. Damit ist vielen Opfern auch außerhalb der Kirche endlich die Chance gegeben worden zu reden. Der Trierer Bischof Stephan Ackermann ist ein überzeugender Gesprächspartner am Runden Tisch der Bundesregierung. Ich bin zuversichtlich, dass die Kirche den Opfern gerecht werden wird.
Auch durch Geldzahlungen?
Schavan Man kann sich nicht von Schuld freikaufen. Die Opfer erwarten zuallererst, dass endlich zugestanden wird, dass ihnen Unrecht geschehen ist. Rat, Hilfe und möglicherweise Finanzierung notwendiger Therapien sind wichtiger als generelle Entschädigungen in Geld.
Werden Kirche und Religion weniger wichtig? Ist die Volkskirche vielleicht in einigen Jahren auch im Rheinland am Ende?
Schavan Nirgendwo in der Bibel steht: Ihr sollt Volkskirche sein. Der Blick in die Kirchengeschichte zeigt, dass es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen enormen Aufwind für Christentum und Volkskirche gegeben hat. Die Menschen spürten nach der verheerenden Erfahrung von zwei Weltkriegen und der Nazi-Barbarei, dass es keine stärkere Kraft gegen alles Totalitäre gibt als das Christentum. Die Bedeutung der Kirche hängt nicht an Mitgliederzahlen. Die Ausstrahlungskraft des Christentums hängt daran, ob wir als Christen überzeugen.
Viele Kirchengegner nutzen den Missbrauchs-Skandal als Gelegenheit, um die katholische Kirche insgesamt in Misskredit zu bringen.
Schavan Die Kirche sollte jetzt nicht fragen: Wer diskreditiert uns? Wer unter Druck steht, muss sich vor Selbstmitleid hüten. Die Gesellschaft ist nicht ungnädig mit Sündern, sie ist ungnädig mit Heuchlern — und zwar zu Recht. Die Kirche muss die Krise nutzen, um neue Kräfte zu entfalten und ihrer großartigen Botschaft gerecht zu werden.
Muss die Kirche Sexualität im Allgemeinen und Homosexualität im Be-sonderen anders behandeln?
Schavan Ja, das fordern viele Theologen seit langem — zu Recht.
Sie erarbeiten mit Arbeitsministerin Ursula von der Leyen ein Konzept zur Unterstützung von Hartz-IV-Kindern. Welche Vorstellungen gibt es?
Schavan Wir wollen, dass benachteiligte Kinder, die die Möglichkeiten unseres Bildungssystems nicht ausreichend wahrnehmen können, mehr Chancen bekommen zu besserer Förderung und zur Teilnahme an den Bildungs-Angeboten, an denen andere Kinder selbstverständlich teilnehmen. Dazu gehören zum Beispiel die Hausaufgabenhilfe und die Musikschule. Kein Kind darf verloren gehen.
Könnte der Absturz der FDP in Umfragen seit der Bundestagswahl Schwarz-Gelb am 9. Mai in NRW die Bestätigung kosten?
Schavan Die Bürger wissen, dass die Regierung Rüttgers dieses Land seit 2005 voranbringt. Das zählt. Deshalb bin ich zuversichtlich.
Die FDP hat verloren, weil sie ihre Steuerversprechen nicht halten kann.
Schavan Die FDP darf sich nicht auf das Thema Steuersenkung verengen. Sie hat mehr zu bieten. Die FDP hat zum Beispiel mit Andreas Pinkwart in NRW einen Wissenschaftsminister, der hohe Akzeptanz genießt, der seit 2005 viel für die Hochschulen und Forschungseinrichtungen erreicht hat.
Die SPD in NRW fordert eine Gemeinschaftsschule, um soziale Ungerechtigkeiten auszugleichen.
Schavan Schon die erste Pisa-Studie hat gezeigt, dass Gemeinschafts-schulen nicht mehr Gerechtigkeit schaffen. Wer die Verbindung von Schulstruktur und Gerechtigkeit herstellt, sagt nicht die Wahrheit.
Sagen Sie das auch den Eltern?
Schavan Ja, neue Schulstrukturdebatten sind für die Eltern ein Horror. Sie wollen vielmehr, dass ordentlicher Unterricht stattfindet und nicht neues Durcheinander. Seit 2005 hat NRW 8000 Lehrerstellen geschaffen. Dieser Weg muss fortgesetzt werden, nicht der Schlendrian aus rot-grünen Zeiten.
Liegt das Durcheinander nicht auch an den unterschiedlichen Schulsystemen in den Bundesländern?
Schavan Föderale Strukturen sind richtig, weil sie freiheitlich sind. Im Moment aber nutzen die Länder den Föderalismus nicht vernünftig — Föderalismus heißt schließlich nicht: Jeder macht, was er will.
Sondern?
Schavan Wir brauchen vergleichbare Schulabschlüsse und mehr einheitliche Schulbücher. Sonst wird Föderalismus als Kleinstaaterei empfunden. Die Bürger erwarten, dass sich die 16 Länder auf die grundlegenden Strukturen des Bildungssystems einigen.
Also ein Bologna-Prozess zur Angleichung der deutschen Schulsysteme, ähnlich wie für die europäische Hochschullandschaft?
Schavan Ja.
Das deutsche Schulsystem ist weniger durchlässig geworden. Nur ein Viertel der Arbeiterkinder schafft den Sprung an die Universität. Was tun?
Schavan Wir brauchen eine Bildungsbegeisterung wie in den 60er Jahren. Der demografische Wandel entscheidet über die Schulstrukturen. Wir müssen die starke gymnasiale Tradition weiterentwickeln und anerkennen, dass die Hauptschulen den größten Beitrag zur Integration geleistet haben.
Aber die Hauptschulen haben immer weniger Anmeldungen.
Schavan Der mittlere Bildungsabschluss ist auch an Hauptschulen möglich. Die Eltern dürfen nicht den Eindruck bekommen, Hauptschulen seien eine Sackgasse.
Hat Deutschland genug Studenten?
Schavan Zuletzt haben 43 Prozent eines Jahrgangs ein Studium aufgenommen. 2005 waren es noch 36 Prozent. Die Entwicklung ist sehr positiv, denn wir brauchen viele qualifizierte Fachkräfte und Akademiker.
Der Bund will zwölf Milliarden Euro zusätzlich in Bildung und Forschung investieren. Sind dann — auch angesichts drohender neuer Belastungen — noch Steuersenkungen drin?
Schavan Wir müssen steuerliche Anreize für Forschung und Entwicklung in Unternehmen durchsetzen. Das kostet zwischen 1,5 und vier Milliarden Euro und stärkt die kleinen und mittelständischen Unternehmen. Ich sehe aber nicht, dass unser erstes Ziel derzeit möglichst viel Steuerentlastung sein muss. Wir sollten aufhören, uns auf Summen festzulegen, und uns an den Realitäten orientieren.