Inhaftierung von Deniz Yücel Istanbul - Nachruf auf einen Sehnsuchtsort

Düsseldorf · Die Inhaftierung des "Welt"-Reporters gibt den kritischen Deutschtürken recht, die die Türkei meiden: Sie sind nicht paranoid. Ebenso wenig wie die Istanbuler Bürger, die aufgehört haben zu schreiben.

 "Ich lausche Istanbul, meine Augen sind geschlossen": Ausblick auf die Stadt vom Galata- Turm.

"Ich lausche Istanbul, meine Augen sind geschlossen": Ausblick auf die Stadt vom Galata- Turm.

Foto: Marie Jansen

"Ich lausche Istanbul, meine Augen sind geschlossen" - so beginnt Orhan Velis berühmtes Gedicht, vielfach vertont, jeder Türke kennt es. Es manifestiert Istanbul als einen Sehnsuchtsort, der Fernweh auslöst. Hunderte, vielleicht Tausende Deutschtürken haben in den Jahren von 2005 bis 2015 diesem Sehnen nachgegeben und sind ausgewandert in die Heimat ihrer Vorfahren.

In Istanbul pulsierte das Leben, dort ließ sich gutes Geld verdienen, noch 2014 galt die Stadt als schillernde Metropole, die buchstäblich alles bot. Doch etliche Auswanderer sind nach ihrer Rückkehr in die Türkei nun ernüchtert oder sitzen auf gepackten Koffern. Sie äußern sich nur vorsichtig zu den Gründen, doch sie müssen schwer wiegen für jemanden, der sich soeben erst eine Zukunft aufgebaut hat.

Böse Worte des Grolls

Vielleicht war es die latente Furcht vor den Verhältnissen in Istanbul, die mich selbst damals davor bewahrte, den Sehnsuchtsort durch Arbeit und Anwesenheit zu entzaubern: mehr Verhüllte auf den Straßen als je zuvor, mehr verbale Angriffe auf türkisch aussehende Menschen, die offensichtlich nicht die Regeln des Ramadan einhalten. Kein Taxifahrer schimpfte mehr auf Verwaltung und Regierung, keine Debatten mehr in Cafés. Stattdessen böse Worte des Grolls über den "Diktator" nur noch hinter der privaten und geschlossenen Wohnungstür.

Und nun? Überall heißt es, die Unterdrückung der Meinungsfreiheit habe mit der am Montag verhängten Untersuchungshaft für den deutschen Journalisten Deniz Yücel eine neue Dimension erreicht. Allein die Untersuchungshaft kann bis zu fünf Jahre dauern. Doch eine neue Dimension ist das nicht. Mindestens 131 türkische Journalisten sitzen laut "Reporter ohne Grenzen" seit Herbst 2016 in den Gefängnissen. Der Fall Yücel spiegelt diese Dimension lediglich.

Für die türkischen Behörden ist auch Yücel ein Türke, weil er beide Staatsbürgerschaften besitzt. Damit konnte er weiter dort als Korrespondent arbeiten, obwohl die Regierung ihm die Akkreditierung entzogen hatte - wie 150 anderen ausländischen Journalisten, von denen die Regierung glaubt, dass sie ohnehin nur kritisch berichten würden. Ohne das Papier gibt es keine Aufenthaltsgenehmigung. Doch genau die brauchte Yücel ja nicht. Ihn konnten sie nicht ausweisen. Nur verhaften. "Das Einsperren eines Journalisten ist die hilfloseste Maßnahme, die eine Regierung veranlassen kann. Die Gedanken lassen sich nicht wegsperren": So formuliert es Mely Kiyak in der "Zeit"; sie kennt Yücel gut. Offiziell vorgeworfen wird Yücel weniger das Schreiben, sondern vielmehr die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Mit dieser Waffe kann die Regierung anscheinend jeden treffen. Oder ist es die Justiz?

4000 Richter und Staatsanwälte wurden entlassen

Die Bundesregierung kann Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nicht auffordern, Yücel freizulassen. Damit würde sie unterstellen, die türkische Justiz arbeite nicht unabhängig. Jedoch sind nach Zahlen aus verschiedenen seriösen Quellen knapp 4000 Richter und Staatsanwälte seit dem Putschversuch im Juli entlassen worden. Die Arbeit wird offensichtlich dennoch erledigt - bei der Welle an Inhaftierungen und Verhaftungen muss man dies vermuten. Ebenso nahe liegt der Gedanke, dass die Arbeit wohl von Juristen übernommen wurde, die der Regierung genehm sind. Die Justiz dann als verlängerten Arm von Erdogans AKP zu begreifen, ist konsequent. An rechtsstaatliche Prinzipien zu appellieren, wie es deutsche Minister unisono tun, ist in der Sache aussichtslos.

 Gökçen Stenzel (47) ist Leitende Regionalredakteurin der RP in Hilden. Sie wurde in der Türkei geboren.

Gökçen Stenzel (47) ist Leitende Regionalredakteurin der RP in Hilden. Sie wurde in der Türkei geboren.

Foto: Studnar

"Hört auf zu schreiben"

Dass es das Einzige ist, was deutsche Regierungsmitglieder und Organisationen aller Art überhaupt tun können, ist "bitter". So nannte Angela Merkel den Vorgang, an dem zwei Dinge deutlich werden. Erstens hat der implizierte Befehl "Hört auf zu schreiben" auf die meisten Türken, wenn auch nicht unbedingt auf alle Journalisten, gewirkt. Sie befolgen ihn, indem sie keine nachprüfbaren Nachrichten mit kritischen Inhalten mehr verschicken. Keine E-Mails, kein Whatsapp, kein Facebook. In Zeiten, in denen 115 Websites abgeschaltet worden sein sollen, eine nachvollziehbare, wenn auch "bittere" Maßnahme seitens der Hälfte der Türken, die Erdogan bisher nicht gewählt haben.

Zweitens, auch das ist seit dem Fall Yücel klar, haben die Erdogan-kritischen Deutschtürken recht, wenn sie die Türkei seit dem Putsch und bis auf Weiteres meiden - erst recht, wenn sie Journalisten sind. Eine Zeit lang habe ich mir als Deutsche mit türkischem Pass selbst vorgeworfen, paranoid zu sein. Weil ich auf Reisen an meinen Sehnsuchtsort verzichte.

(RP)
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