Allein im Alter Heinz Riediger ist der Letzte seiner Familie
Albstadt-Ebingen · Als 16-Jähriger kämpfte Heinz Riediger als Luftwaffenhelfer im Zweiten Weltkrieg. Er verlor seinen Bruder, seine einzige Tochter, seine einzige Enkelin und seine Frau. Jetzt ist er 97 – und nutzt jeden Moment, in dem das Leben aufleuchtet.
Seinen Ferrari und seinen Porsche hat Heinz Riediger an diesem Tag zu Hause gelassen. Er schafft es auch so in das Fitnessstudio in Albstadt-Ebingen. Dreimal die Woche trainiert er hier. Mindestens. Er tritt durch die offene Tür, winkt und ruft: „Haaaalloooo, guten Morgen!“ Ein paar Frauen machen Aerobic, winken und rufen zurück. „Ich muss doch meine Mädels grüßen“, sagt Riediger. In diesem Moment wirkt er wie Anfang 20: kurz charmant mit den Frauen plaudern, dann die Muskeln stählen. Heinz Riediger ist 97. Ferrari und Porsche, so hat er seine Rollatoren scherzhaft getauft.
Riediger ist schlank, hat pechschwarzes, volles Haar, das nur von wenigen grauen Strähnen durchzogen ist. Mit kurzen Schritten trippelt er auf die Geräte zu. Oberarme, Bauchmuskeln, Rücken – das Fitnessprogramm ist auf ihn zugeschnitten. Zuerst die Rudermaschine: 22 Kilo mit den Armen ziehen, 36 Kilo bremsen, 20 Mal, nächste Station. Riediger will fit und beweglich bleiben – und Leute treffen.
Eine Frau schlendert an ihm vorbei: „Herr Riediger, Sie strahlen heute aber wieder.“ – „Ach, es würde Ihnen und mir ja nichts nützen, wenn ich traurig wäre, oder?“ Ein Winken hier, ein Hallo dort. Ein Lächeln für einen Bekannten. So kennt man ihn in Albstadt-Ebingen im Zollernalbkreis in Baden-Württemberg.
Doch es gibt noch einen anderen Heinz Riediger, den nur wenige kennen. Dem man anmerkt, dass sein Leben einige Narben hinterlassen hat.
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Hier geht es zur AnmeldungSein älterer Bruder wurde 1941 an der Front in Russland erschossen. Sein Vater stürzte nach dem Krieg als Pilot mit einem Flugzeug ab. Seine einzige Tochter litt an einer seltenen, unheilbaren Krankheit und starb 2005. Seine einzige Enkelin kam vier Jahre später mit Anfang 30 in einem brennenden Auto ums Leben.
Wie seine Frau Annelise und er all das ertragen haben? Riediger antwortet: „Wir haben uns immer wieder gesagt: Es ist gerade furchtbar, aber wir machen weiter.“ Vor elf Jahren starb dann auch seine Frau – Darmkrebs. Heinz Riediger weiß jetzt, wie es sich anfühlt, der Letzte in der Familie zu sein. Mit 97 Jahren. Das klassische Drehbuch eines Lebens sieht ja ganz anders aus. Fragt man nach seinen Gefühlen, sucht er nach Worten. Und findet oft keine.
Er hält kurz mit dem Training inne. Bloß nicht übertreiben, schließlich sei er ja nicht hier, um große Muckis zu bekommen. „So ein alter Kerl wie ich, das wäre ja lustig.“ Er lacht. Die Beine kann er nicht mehr gut belasten – das Alter. Und die kaputten Knie nach einem Autounfall. Außerdem: Blessuren aus dem Zweiten Weltkrieg – eine Stichwunde im Oberschenkel, eine Schussverletzung am Fuß, mehrere Granatsplitter im Gesäß. All das sei damals, im April 1945, in den letzten Kriegstagen passiert. Als die Amerikaner im Harz von der einen Seite immer weiter vorrückten und die Russen von der anderen. Irgendwo im Wald explodierte eine Granate. Ein Regen aus Granatsplittern sei auf ihn eingeprasselt, erzählt Heinz Riediger.
In seinem Haus in Albstadt-Ebingen zieht er einen Ordner aus dem Regal und legt ihn auf den Esstisch – Erinnerungen an den Krieg. Fotos von ihm und seinen Kameraden, Geländepläne, Bilder von Flugzeugen und Auszüge aus seinem Tagebuch. An den Treppenaufgang hat er vor Jahrzehnten Granaten und Kanonen gestellt, an die Wand historische Degen, Säbel und Bajonette gehängt. Doch wenn er in den Fernsehnachrichten den Krieg sieht in Gaza, in der Ukraine, drückt er schnell den Umschaltknopf. Zeitungsartikel über Kriege legt er zur Seite.
Manchmal, sagt Heinz Riediger, träume er noch vom Krieg: Schüsse, kalte Körper, leere Blicke in Massengräbern. So wie damals, im April 1945, als er auf dem Friedhof von Michaelstein im Harz gefallene Soldaten in eine Grube legen und gleichzeitig vor Schüssen in Deckung gehen musste. Ein paar Tage später geriet er in amerikanische Gefangenschaft. Im Jahr davor war Riediger als 16-Jähriger zur Wehrmacht eingezogen worden, als einer von schätzungsweise 200.000 Jugendlichen. An Flugabwehrkanonen sollten sie als Luftwaffenhelfer feindliche Bomber vom Himmel schießen.
Der Lehrer stieg damals mit Heinz Riediger und seinen Klassenkameraden in den Zug nach Friedrichshafen, denn der Unterricht sollte auch im Krieg weitergehen. Sie schrieben Klassenarbeiten in einer Baracke, zwischen Übungen und Einsätzen, bei denen sie Kanonenrohre in die richtige Position kurbelten oder Zünder von Granaten einstellten. Später schoben und zündeten sie auch zehn Kilo schwere Granaten in Abwehrkanonen. Schuss um Schuss, alle fünf Sekunden einer.
Spricht Riediger vom Krieg, scheint es, als habe ihn eine Zeitmaschine 80 Jahre in die Vergangenheit katapultiert: Major Ortner, Baracke Heimatland, 18 Betten – solche Begriffe reiht er aneinander. „Eigentlich war es auch eine schöne Zeit – bitte nicht falsch verstehen – das könnte seltsam klingen“, betont er: „Aber diese Kameradschaft…“ Nachts seien sie manchmal heimlich im Bodensee geschwommen. In Momenten wie diesen habe er die Todesangst, die wie eine Gewitterwolke über ihm hing, ausblenden können. Und die Gedanken an drei seiner Schulkameraden, die bei einem Luftangriff ums Leben gekommen waren.
Was am 15. April 1945 in Oderbrück im Harz geschah, muss er in keinem Ordner nachlesen – es hat sich in sein Gedächtnis eingebrannt: „Ich weiß, dass ich mindestens einen Menschen getötet habe.“ Gleichzeitig hätten sie geschossen, der amerikanische Soldat und er: „Ich habe ihn getroffen und er einen meiner Kameraden neben mir. Alles ging so schnell.“ Tränen bilden sich in seinen Augen: „Das habe ich nie vergessen.“
Erst 40 Jahre nach Kriegsende begann er, sich mit dem Kapitel seines Lebens zu befassen, für das ihm bis dahin die Worte gefehlt hatten. Abends nach der Arbeit als Fahrlehrer setzte sich Heinz Riediger an den Esstisch und tippte sein Kriegstagebuch ab, schrieb weitere Erinnerungen auf und klebte Fotos von damals daneben. Seine Frau Annelise saß mit am Tisch, strickte Socken und Pullover. Und sie hörte zu, wenn er erzählte.
Heide Glaesmer arbeitet als Psychologin und hat sich zu traumatischen Erfahrungen und Posttraumatischen Belastungsstörungen bei älteren Menschen habilitiert. Sie sagt, es sei relativ verbreitet gewesen, dass Menschen erst viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in der Lage waren, ihre Erlebnisse in Worte zu fassen. In der Kriegsgeneration gebe es tendenziell weniger Aufmerksamkeit für die Traumatisierungen – jeder sei damals schließlich vom Krieg betroffen gewesen. Durch die Verbrechen des Nationalsozialismus sei es aus einer moralischen Perspektive fast unmöglich gewesen, die eigenen Verluste und seelischen Verletzungen, den eigenen Schmerz zu benennen. Man hatte zu befürchten, sonst in den Verdacht zu kommen, zu bagatellisieren, was die Deutschen angerichtet hatten.
2008 hat Glaesmer in einer Studie herausgefunden: Bis zu 60 Prozent der befragten Menschen der Kriegsgeneration leiden unter Traumatisierungen aus der Kriegszeit. Bei bis zu sieben Prozent fanden sich Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung: „Das zeigt, wie langfristig und komplex die Folgen des Krieges sind.“ Heinz Riediger sagt, der Familienalltag und seine Arbeit als Fahrlehrer hätten ihn lange vor den Schatten der Vergangenheit abgelenkt: „Das war die schönste Zeit meines Lebens.“ Am Wochenende putzte er mit seiner Frau und seiner Tochter zunächst das Auto, dann machten sie einen Ausflug oder gingen reiten. „Wir haben viel gesehen und immer miteinander gelebt, nie nebeneinander“, sagt er.
Heinz Riediger zeigt sein Hochzeitsalbum. Auf der Vorderseite ist mit Goldstift ein Paar gezeichnet. Es sitzt auf einer Weltkugel, eng beieinander, und hält sich an den Händen. Auf den Esstisch hat er einen Bilderrahmen mit einem Foto von Annelise gestellt, eine Engelsfigur aus Stein lehnt dagegen. In seinem Schlafzimmer lächelt ihn seine Frau von einem Foto an der Wand an. Jeden Tag wünscht er ihr einen guten Morgen und eine gute Nacht, erzählt von seinem Tag. Oder er fragt sie um Rat, wenn er mal wieder seine Brille oder den Autoschlüssel verlegt hat.
Riediger hat einen Kussmund auf das Armaturenbrett seines Mercedes geklebt, an der Beifahrerseite. „Bonjour, meine Liebste“, steht auf dem Aufkleber. Auf einem Foto an der Windschutzscheibe lächeln Annelise und er direkt in die Kamera, Arm in Arm.
Im Mai 2013 starb Annelise. Heinz Riediger sagt, er habe seine Frau zugedeckt und den Rest der Nacht neben ihr gelegen. Keine Hand hätte mehr zwischen sie gepasst. Bis zu ihrem Tod hat er für sie Spargel geschält und Kartoffeln angebraten, ihr die Haare gewaschen und den künstlichen Darmausgang gereinigt. Er sagt: „Ich habe so hinter ihr gestanden, wie sie damals immer hinter mir gestanden hat.“ Mit damals meint er, als er einen Herzinfarkt erlitt. Als er Prostatakrebs bekam. Und zwei Jahre danach die Krankheit, an der seine Anne sterben sollte: Darmkrebs. Heinz Riediger aber konnte geheilt werden. Wie er mit dem Alleinsein klarkommt? Er schweigt, holt tief Luft, zögert. Schließlich sagt er mit brüchiger Stimme und feuchten Augen: „So komme ich damit klar.“ In seinen Augen schimmern Tränen: „Eigentlich ist meine Anne immer noch da.“
An Riedigers Balkontür klebt eine Sonne aus Papier, wahrscheinlich aus einer Zeitschrift. Genau weiß er es nicht mehr. Augen, Nase und ein lachender Mund sind aufgedruckt. An regnerischen Tagen erinnere ihn die Papiersonne daran, dass wieder bessere Zeiten kommen, sagt er. Vom Kindergarten nebenan hört man lautes Lachen. Heinz Riediger sagt: „Da ist was los! Ich schaue den Kindern so gerne zu.“ Im Alltag entdeckt er oft kleine Dinge, die an anderen vorbeiziehen. Momente, in denen das Leben aufleuchtet. Die ihn für kurze Zeit vergessen lassen, dass er einige geliebte Menschen verloren hat.
Spricht Heinz Riediger von seiner Familie, von der Trauer, der Einsamkeit, dann dreht er den Kopf und blickt auf die Fotos an der Wand. Annelise. Seine Tochter. Seine Eltern. Sein Bruder und er als Kinder, die Köpfe aneinander gelehnt. Hat er Angst vor dem Tod? „Nein, ich hatte ein sehr erfülltes Leben“, sagt er: „Trotz der schweren Zeiten. Wahrscheinlich gerade deswegen.“ Er deutet auf den geöffneten Ordner vor ihm und fügt hinzu: „Jeder einzelne Tag – ob er gut war oder schlecht – hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin.“ Außerdem würde ja seine Anne irgendwo auf ihn warten.
Bis er und seine Frau sich wiedersehen, will Heinz Riediger noch die schönen Momente im Hier und Jetzt genießen. Zum Beispiel mit Erika, einer ehemaligen Nachbarin, bei einem Wein zusammensitzen. Sie sei inzwischen wie eine Tochter für ihn, sagt er. Sie erzählt ihm von ihrem jüngsten Urlaub. Er spricht über seine Ausflüge zu einem nahe gelegenen Flugplatz. Und manchmal auch über seine Wunden, die niemand sehen kann. Die niemals ganz verheilen werden.