Richter untersuchen Schulschiff Ein Schatten liegt über der "Gorch Fock"

Rostock · Ein Unfall, ein Mord? Vor knapp sechs Jahren ist die Kadettin Jenny Böken aus Geilenkirchen unter bis heute ungeklärten Umständen auf hoher See gestorben. Die Eltern fordern jetzt Entschädigung. Am Mittwoch gingen drei Aachener Richter an Bord.

Die Gorch Fock - Schulschiff der Deutschen Marine
15 Bilder

Die Gorch Fock - Schulschiff der Deutschen Marine

15 Bilder

Das Schulschiff "Gorch Fock" der Deutschen Marine ist einer der Stars des Volksfestes "Hanse Sail" an diesem Wochenende. Mehr als 200 Segel- und Museumsschiffe laufen in Rostock-Warnemünde ein. Doch die ersten Besucher an Bord der schmucken Dreimast-Bark waren gestern drei Richter des Aachener Verwaltungsgerichts.

Denn wieder müssen sich Juristen mit dem mysteriösen Tod der 18-jährigen Offizieranwärterin Jenny Böken beschäftigen: Diesmal geht es um 40.000 Euro. Diese Entschädigung steht Hinterbliebenen nach dem Soldatenversorgungsgesetz zu, wenn in Ausübung des Dienstes besondere Gefahr bestanden hat. Die Richter wollten sich bei dem Ortstermin, an dem auch der neue "Gorch Fock"-Kommandant Fregattenkapitän Nils Brandt teilnahm, ein persönliches Bild von den Arbeitsbedingungen an Bord eines Segelschiffs machen. "Am 22. Oktober findet in Aachen dann die mündliche Verhandlung statt", erläuterte ein Gerichtssprecher.

Den Eltern geht es allerdings nicht um das Geld, wie Mutter Marlis Böken gegenüber unserer Redaktion betonte. "Es geht auch nicht gegen die Marine, nicht gegen dieses schöne Schiff." Die Eltern hofften vielmehr immer noch, dass die Umstände des Todes ihrer Tochter aufgeklärt werden, um den sich viele Gerüchte ranken. Auch ihr Anwalt Rainer Dietz sieht in den Akten "jede Menge Ungereimtheiten".

Bewegende Trauerfeier für verunglückte Soldatin
4 Bilder

Bewegende Trauerfeier für verunglückte Soldatin

4 Bilder

Fakt ist: Die junge Frau aus dem Geilenkirchener Ortsteil Teveren, als Segelwache auf Deck eingeteilt, war in der Nacht auf den 5. September 2008 in der Deutschen Bucht über Bord gegangen. Sie trug keine Schwimmweste, weil, so die Marine, diese sie beim Segelsetzen oder -bergen zu sehr behindert hätte. Ihre Leiche wurde elf Tage später nordwestlich von Helgoland von einem Fischereiaufsichtsboot geborgen. Die Staatsanwaltschaft Kiel ordnete sofort eine Obduktion an. Ergebnis: Tod durch Ertrinken. Eine Fremdeinwirkung sei nicht festzustellen.

Doch beim Studium der rund 2000 Seiten starken Ermittlungsakten stieß der Anwalt der Familie auf Merkwürdiges, wie er 2011 unserer Redaktion berichtete: So sei bei der angeblich Ertrunkenen bei der Obduktion kein Wasser in der Lunge gefunden worden. Viele Details seien fragwürdig: "45 Mann waren an Deck, davon wollen 20 einen Schrei gehört haben. Aber angeblich hat niemand etwas gesehen", sagte Dietz. Gefunden worden sei die Tote ohne Schuhe, es sei aber schwierig, im Wasser die klobigen Schnürstiefel auszuziehen. "Erst trug sie schwarze Socken, bei der Obduktion hatte sie aber weiße an." Auch die Aussagen, welches Wetter in dieser Nacht geherrscht habe, seien widersprüchlich. Nach damaligen Angaben der Marine lag die "Gorch Fock" wegen starken Windes unter vollen Segeln sehr schräg im Wasser, doch ruhig und stabil. Mal ist von Windstärke sieben und zwei Meter hohen Wellen die Rede, mal von noch rauerer, mal von ruhigerer See.

Schlief die erschöpfte Kadettin ein, stolperte unglücklich und fiel dann über die Bordwand? Das ist ebenso Spekulation wie ein mögliches Verbrechen. Aber ein E-Mailverkehr mit den Eltern belege, dass ihre Tochter sie verzweifelt um einen Frauenarzt-Termin gebeten habe, so der Anwalt. Eventuelle Hinweise auf Mord oder Vergewaltigung wären an der entstellten Leiche jedoch nicht mehr feststellbar gewesen.

Befürchtete die Kadettin, schwanger geworden zu sein? War sie vergewaltigt worden? Hatte sie dem oder den Tätern mit einer Anzeige nach Rückkehr in den Heimathafen Kiel gedroht? Gerüchte machten monatelang die Runde. Aber auch für angebliche rüde und frauenfeindliche Rituale der ausschließlich männlichen Stammbesatzung gab es niemals einen Beweis. Marinekreise vermuteten eine Schmutzkampagne, zumal zwei Jahre später ein weiterer Todesfall für Aufregung sorgte und Zweifel am Sinn eines solchen Segelschulschiffs verstärkte: Eine 27-Jährige war bei der Ausbildung in einem brasilianischen Hafen aus 27 Metern Höhe auf das Deck der "Gorch Fock" gestürzt.

2013 griff ein Kriminalroman namens "Mordsee" die These auf, Jenny Böken könnte ermordet worden sein. Der Autor, der 2007 selbst als Seemann auf der "Gorch Fock" fuhr, will durch seine Erlebnisse an Bord dazu inspiriert worden sein. Da die Romanfigur "Kadettin Ellen Schwarz" als mannstoll dargestellt wurde, klagten die Eltern gegen das Werk, erlitten aber eine Niederlage: Die umstrittenen Passagen seien durch die künstlerische Freiheit gedeckt, habe ein Gericht festgestellt, berichtete Marlis Böken enttäuscht. Auch die Kieler Staatsanwaltschaft weigerte sich, das allgemeine Verfahren noch einmal aufzurollen.

Trotzdem geben die Bökens nicht auf, suchen immer neue juristische Wege, um auf den Fall aufmerksam zu machen - eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ist noch nicht entschieden. Die Mutter weiß um die Vorwürfe, die ihr gemacht werden: "Das sind doch die verrückten Eltern, die spinnen, die verschwenden doch nur Steuergelder." Dabei gehe es doch nur darum, endlich die Wahrheit herauszufinden.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort