Fünf Jahre nach Amoklauf in Winnenden Heribert Rech: "Das war unwirklich und grausam"

Stuttgart/Winnenden · Littleton, Erfurt, Winnenden - die Namen dieser Orte sind untrennbar verbunden mit Massakern an Schulen. Im schwäbischen Winnenden jährt sich die kaltblütige Erschießung von einem Schüler, acht Schülerinnen und drei Lehrerinnen durch den 17-jährigen Tim K. zum fünften Mal. Stadt und Schule gedenken am Dienstag der Opfer.

 Eine Frau trauert vor der Albertville-Realschule in Winnenden mit einem Kind im Arm um die Opfer des Amokläufers Tim K.

Eine Frau trauert vor der Albertville-Realschule in Winnenden mit einem Kind im Arm um die Opfer des Amokläufers Tim K.

Foto: dpa

Als Sebastian Wolf am 11. März 2009 um 9.35 Uhr in die Albertville-Realschule in Winnenden eindringt, weiß er nicht, was auf ihn zukommt. Gleich im Eingangsbereich sieht der Streifenpolizist auf einem Treppenabsatz eine dunkle Figur - und dann hört er es pfeifen. Eine Kugel verfehlt seinen Kopf, und er sieht die Gestalt flüchten. Hätten er und seine beiden Kollegen nicht beherzt das Gebäude gestürmt, hätte der Todesschütze Tim K. noch mehr Unheil in seiner ehemaligen Schule angerichtet. Der 15 Opfer gedenken die Schule und die Stadt am Dienstag.

An dem Unglückstag vor fünf Jahren wird vielen die Grausamkeit der Tat erst deutlich, als während der Pressekonferenz in der Schulsporthalle der damalige Innenminister Heribert Rech (CDU) und Landespolizeipräsident Erwin Hetger vor laufenden Kameras in Tränen ausbrechen. Was sie gesehen haben, verschlägt ihnen fast die Sprache.

 Der ehemalige baden-württembergische Innenminister Heribert Rech.

Der ehemalige baden-württembergische Innenminister Heribert Rech.

Foto: dpa, frk bwe

Denn im Schulgebäude sitzen zu diesem Zeitpunkt noch acht Schülerinnen in ihren Bänken, mit tödlichen Kopfverletzungen, ein weiterer ermordeter Schüler ist von seinem Stuhl gerutscht. Eine Lehrerin liegt tot in einem Fachraum, nachdem Kugeln dessen Tür durchschlagen haben. Zwei Referendarinnen sind tot zusammengesunken im Gang, vermutlich, weil sie dort nach dem Rechten sehen wollten. Elf Schüler sowie zwei Lehrerinnen wurden verletzt. Rech erinnert sich an die Bilder aus dem Klassenzimmer, die ihn lange nicht loslassen: "Das kann nicht sein, dass sie tot sind, dachte ich. Das war unwirklich und grausam."

Doch nicht nur in der Schule wütet der 17-Jährige, auf seiner Flucht erschießt er einen Gärtner in einem Park, kidnappt einen Autofahrer, tötet schließlich in einem Wendlinger Autohaus zwei Menschen, verletzt zwei Polizisten schwer, bevor er sich selbst richtet.

Tim K. führte 285 Kugeln mit sich

Nach der Tat dreht sich die öffentliche Diskussion vor allem um den Täter und seine Motive. Wie konnte in einem kleinen Ort in der schwäbischen Provinz ein unauffälliger junger Mann eine solch unfassbares Verbrechen begehen? Am Anfang aller Erklärungsversuche steht sein Zugang zu einer Waffe, einer Beretta, mit der er schon im Sportschützenverein seines Vaters trainiert hatte. Diese Waffe hatte der Vater im Kleiderschrank unverschlossen deponiert, wofür er wegen Verstoß gegen das Waffengesetz zu eineinhalb Jahre Haft auf Bewährung verurteilt wurde. Die Munition lagerte im Nachtisch. Tim K. führte zu Beginn des Amoklaufs 285 Kugeln mit sich.

Aber allein die Verfügbarkeit einer Waffe führt nicht zwangsläufig zu einem Blutbad. Wie später herauskommt, war Tim K. 2008 in psychiatrischer Behandlung und hatte unter anderem von Hass und Tötungsfantasien gesprochen. Zum sicherlich nie vollständigen Puzzle gehört auch, dass der Sohn eines Unternehmers geradezu süchtig nach Computer-Ballerspielen und ein Waffennarr war. Allerdings wurde er in seiner neuen Schule, einer kaufmännischen Privatschule, nicht als isoliert oder introvertiert wahrgenommen. "Er war ein Poker-Fan, hatte Beziehungen zu Mitschülern. Die Depression hat sich hier gar nicht gezeigt", erzählte damals eine Lehrerin.

Doch die Angehörigen der Opfer warnten damals davor, den Täter in den Fokus zu rücken. Eine Heroisierung der Täter in der Presse komme deren Motiven entgegen. "Drehen wir den Spieß um, indem wir den Opfern ein Gesicht verleihen", meinte Gisela Mayer, Mutter einer der ermordeten Pädagoginnen. Mayer und andere Eltern bilden das Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden. Es setzt sich für ein Verbot großkalibriger Waffen für Privatpersonen ein und für schärfere Vorgaben bei Computerspielen - beides unerfüllte Forderungen.

Debatte über Prävention

Auch eine Debatte über Sicherheit an Schulen folgte, vor allem über Prävention. Die Zahl der Schulpsychologen im Südwesten sollte auf 200 verdoppelt werden - ein Plan, der wegen fehlender Fachleute heute noch nicht ganz umgesetzt ist. Grün-Rot hat auch mit dem Wiedereinstieg in die Finanzierung der Schulsozialarbeit einen Schub beschert. Kultusminister Andreas Stoch (SPD) meint: "Wir können alle gemeinsam dazu beitragen, Gewalt zu verhindern und Schulen zu Orten zu machen, an denen sich Schüler und Lehrkräfte sicher fühlen."

Aus Sicht des Vorsitzenden des damaligen Landtags-Sonderausschusses zum Amoklauf, Christoph Palm, sind die Empfehlungen des Gremiums in der Breite umgesetzt worden: von Orientierungsplänen mit Raumkennzeichnung der Schulen für die Polizei über verstärkten Einzug von Medienpädagogik in Lehrerbildung und Lehrpläne bis hin zu verstärkten Waffenkontrollen. Für ihn ist aber das "A und O", das Auffällige in den unauffälligen Schülern zu sehen. Doch Palm ist auch überzeugt: "Durch Hinschauen kann man die Wahrscheinlichkeit eines Amoklaufes minimieren, aber nicht auf Null reduzieren."

(dpa)
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