Der Quell für Kreativität Langweilt euch!

Düsseldorf · Die meisten Menschen unternehmen erhebliche Anstrengungen, damit sie sich nicht langweilen. Doch was von vielen als Leerlauf empfunden wird, kann zum Quell von Kreativität und zur Triebfeder für Veränderungen werden.

 Wenn nichts los ist, passiert meist doch etwas - in einem selbst. (Symbolfoto)

Wenn nichts los ist, passiert meist doch etwas - in einem selbst. (Symbolfoto)

Foto: imago/Westend61/Annie Hall

„Langeweile ist ein böses Kraut. Aber auch eine Würze, die viel verdaut.“ Johann Wolfgang von Goethe musste schon so oft als Kronzeuge für Weisheiten aller Art herhalten, dass man Gefahr läuft, Leute zu langweilen. Wenn es aber darum geht, ausgerechnet der Langeweile etwas Spannendes abzugewinnen, erwähnt man ihn dann doch, weil er schon vor 200 Jahren als einer der Ersten überhaupt darauf hingewiesen hat, dass selbst einer scheinbar sinnlos vergehenden Zeitspanne eine Bedeutung innewohnen kann.

Lan-ge-wei-le: Schon das Wort klingt so zäh, dass es glatt den Preis für den langweiligsten Begriff gewinnen könnte, wäre es nicht zugleich mit dem Stoßseufzer jeder Kindheit verbunden, der emotionale Ausnahmezustände zum Ausdruck bringt: Wut, Verzweiflung, Frustration. Wer erinnert sich nicht an bleischwere Ferientage, wenn die Spielkameraden schon im Urlaub waren, man selbst aber nicht, an nicht enden wollende Besuche mit den Eltern, bei denen sich nur die Großen prächtig amüsierten, an Sonntage, wenn alles zu war und jeder um einen herum nichts anderes als seine Ruhe wollte. Ster-bens-lang-wei-lig.

Irgendwann richtete man sich im dämmrigen Niemandsland vagabundierender Gedanken ein

Es war so: Wenn man damals auf den Bus wartete, der einen zur Schule brachte, tat man nichts anderes, als auf den Bus zu warten, der einen zur Schule brachte. Fertig. Irgendwann richtete man sich im dämmrigen Niemandsland vagabundierender Gedanken ein, in das einen die Langeweile unweigerlich entführte, weil Ablenkung und das war in der vordigitalen Ära oft der Fall – fehlte. Dann passierte doch etwas: Weil die Gegenwart so wahnsinnig öde war, beschäftigte sich das heranreifende Hirn mit der Vergangenheit. Oder mit der Zukunft. Das konnte durchaus unterhaltsam, sogar kreativ sein. Aus dem Nichts erschien die Gelegenheit, mit manchem abzuschließen. Oder sich Neuem zu öffnen. Die Zeit hörte auf, ein Feind zu sein.

Die Form der schöpferischen Langeweile ist auf dem Rückzug

An diesem Punkt hätte man den Satz des alten Goethe schon eher verstanden, wenn man ihn denn gekannt hätte. Oder Walter Benjamins Worte: „Wenn der Schlaf der Höhepunkt der körperlichen Entspannung ist, so die Langeweile der geistigen. Die Langeweile ist der Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet.“ Aber auch den hatte man damals noch nicht gelesen.

Heute befindet sich diese Form der schöpferischen Langeweile auf dem Rückzug. Schon Kleinkinder wischen auf Tablet-Bildschirmen herum, von Jugendlichen und Erwachsenen ganz zu schweigen. Sobald nichts läuft, wandert der Blick aufs Smartphone: beim Warten auf die Bahn, beim Warten aufs Essen, beim Warten auf die Freundin. Wem das Fernsehprogramm zu langweilig ist, der schaut bei Netflix rein. Das Reich der Tagträume ist zusammengeschrumpft und damit der Raum für Gedanken an das, was wirklich war, und an das, was vielleicht sein könnte. Eine permanente Gegenwart aus immer neuen Ablenkungen und Reizen frisst Vergangenheit und Zukunft. Nicht wenige Menschen stecken inzwischen viel Geld in Kurse, in denen man lange auf einen Fleck an der Wand starrt, um herauszufinden, was das mit einem macht. An der Bushaltestelle gab es das früher umsonst.

Auf der Suche nach der verlorenen (Aus-)Zeit stößt man auf eine nicht so ferne Vergangenheit, in der es bloß eine Handvoll Sender gab, Geschäfte um 18.30 Uhr schlossen (samstags um 14 Uhr!) und soziale Netzwerke sich auf ein gutes Dutzend bester Freunde beschränkten. Mit Leuten in Kontakt zu treten, war aufwendiger. Man wartete, dass das Telefon klingelte, schrieb Briefe. Die Antwortzeiten waren aus heutiger Sicht krass, Arbeitsabläufe noch nicht so hoch verdichtet und die Menschen noch nicht so sehr damit beschäftigt, sich selbst und ihr Leben ständig weiter zu optimieren.

Langeweile ist kein Zustand der Ruhe

Doch dieses langsamere Leben war keineswegs ruhiger – und zwar deshalb, weil man sich öfter langweilte. Denn Langeweile ist kein Zustand der Ruhe, im Gegenteil. Langeweile macht unruhig, weil Zeit nicht ausgefüllt wird. „Langeweile ist eine Leere, die auf ein unbestimmtes Anderes verweist. Noch deutlicher: Wer sich langweilt, will etwas anderes“, sagt Norbert Bolz, Kommunikationstheoretiker an der TU Berlin. Langeweile individualisiere radikal und sei deshalb gerade autoritären Staaten suspekt. Nicht umsonst wurde zu DDR-Zeiten Freizeit durch „gesellschaftliche Arbeit“ massiv beschnitten: Parteiarbeit, ehrenamtliche Tätigkeiten in Massenorganisationen und Sportgemeinschaften, Einsätze als Wahlhelfer, Agitator oder Ordner, Aufgaben im Elternbeirat oder als Zirkelleiter sollten verhindern, dass die Bewohner des Arbeiter- und Bauernstaates auf dumme Gedanken kamen.

Mittlerweile widmet sich die Forschung vermehrt dem Phänomen, dass es das menschliche Bewusstsein stört, wenn nichts stört und Langeweile eintritt. Darin unterscheidet sich der Homo sapiens ja fundamental von anderen Lebewesen, die aufgrund eines natürlichen Reiz-Reaktionsschemas stets wissen, was zu tun ist. Dass Langeweile kreativ macht, haben die Psychologinnen Sandi Mann und Rebekah Cadman vor einigen Jahren wissenschaftlich bewiesen. Sie ließen drei Gruppen von Personen Aufgaben lösen, bei denen schöpferische Vorstellungskraft gefragt war. Die erste Gruppe musste allerdings zuvor öde 15 Minuten lang in einem Telefonbuch lesen, die zweite Gruppe ebenso lang stupide Nummern daraus abschreiben. Die dritte Gruppe bekam gar nichts derart Langweiliges zu tun – und schnitt im anschließenden Test am schlechtesten ab.

In ihrem Buch „Langweilen Sie sich? Eine kurzweilige Psychologie der Langeweile“ beschreibt die Psychologin Maria Kern Langeweile als Chance, seinem Leben eine Wende zu geben. Aber dazu muss man Langeweile aushalten können. Die Vielen, die nicht mehr glauben, dazu in der Lage zu sein, verpassen etwas.

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