Wahlverwandtschaften Eine neue Familie aus dem Internet

Köln · Für viele Menschen ist Einsamkeit ein ständiger Begleiter. Der Mönchengladbacher Verein "Wahlverwandtschaften" hilft Erwachsenen, familienähnliche Beziehungen zu Menschen aufzubauen. Das klappt erstaunlich gut.

 Marion Steinert (52) und Anke Hilbig (34) lernten sich Heiligabend kennen.

Marion Steinert (52) und Anke Hilbig (34) lernten sich Heiligabend kennen.

Foto: Thilo Kühne

Die Lebensgeschichte von Christine Wichert ist geprägt von Schicksalsschlägen: Als sie 24 Jahre alt war, starb ihre Halbschwester an Epilepsie. Zwei Jahre danach ertrank ihr Vater beim Segeln, nur sechs weitere Jahre später verlor sie ihre Mutter durch Lungenkrebs. Mit 32 Jahren war Christine Wichert ganz allein - mit sich selbst, mit den Problemen und mit der unvorstellbaren psychischen Belastung. Allein wäre sie noch heute, wenn sie nicht vor 17 Jahren auf einer Studienreise durch China zwei 71-jährige Damen namens Ada und Ilse kennengelernt hätte. Die beiden wurden zu ihren "Müttern", wie Christine Wichert sagt. Ada und Ilse gaben ihr Geborgenheit in einer scheinbar ausweglosen Situation. Es war die Geburtsstunde der Idee für "Wahlverwandtschaften".

 Romana Straub und Ulrike 'Uli' Hampe fanden über den Verein Wahlverwandschaften zueinander.

Romana Straub und Ulrike 'Uli' Hampe fanden über den Verein Wahlverwandschaften zueinander.

Foto: Thilo Kühne

Seit 2009 bringt der Mönchengladbacher Verein Menschen zusammen, die auf der Suche sind nach familiärer Wärme. Auf der Online-Plattform mit rund 1000 registrierten Mitgliedern tummeln sich derzeit Menschen von 18 bis 91 Jahren. Aktuell gibt es Lokalorganisationen in Krefeld, Mönchengladbach, Dortmund, Stuttgart, Minden und Hamburg, in denen circa alle sechs Wochen Begegnungsveranstaltungen und ein- bis zweimal pro Monat informelle Stammtische organisiert werden.

Zwar würden immer mehr Menschen die Online-Plattform nutzen, um Familienmitglieder ihrer Wahl kennenzulernen, dennoch sei die Hemmschwelle laut Gründerin Christine Wichert bei vielen spürbar groß. Und das, obwohl Einsamkeit gerade im Alter weit verbreitet sei. "Am wichtigsten ist, das Problem lösen zu wollen - da wollen wir behilflich sein", so Wichert.

Marion Steinert (52) und Anke Hilbig (34) lächeln zeitgleich, als sie an den Moment zurückdenken, in dem sie zum ersten Mal die Stimme des anderen hörten. Es war Heiligabend 2014. Beide verbrachten das Weihnachtsfest alleine zu Hause. Knapp drei Stunden dauerte das erste Telefonat — aus heutiger Sicht der Grundstein für ihre emotionale Verbindung. "Manchmal sind wir Schwestern — manchmal aber auch Mutter und Tochter. Wir haben unterschiedliche Rollen, die je nach Gespräch variieren", erklärt Anke Hilbig, die in einer Radiosendung von dem Verein erfuhr, der Wahlverwandtschaften vermittelt.

Auch Marion Steinert hörte die Sendung. Beide meldeten sich noch am selben Abend an, ehe sie im Internet aufeinander aufmerksam wurden. Es folgten Telefonate, E-Mails und das erste Treffen. Marion Steinert kochte. Es gab Curryhühnchen mit Reis und Salat. "Ich war tierisch nervös, wir hatten uns vorher ja noch nie gesehen. Zudem beschäftigte mich die Frage, auf welcher Ebene man sich begegnet", sagt die 52-Jährige. Marion Steinert kommt aus einer "aussterbenden Familie" wie sie sagt. Ihre Mutter wohnt zwar in der Nähe ihrer Heimat Dortmund, doch ihr Onkel lebt in Oranienburg und ihr Bruder südlich von Wiesbaden. Seit den 90ern ist sie geschieden, lebt seitdem alleine, Kinder hat sie keine. "Da kommt also nichts nach", sagt Steinert.

Für Anke Hilbig war Einsamkeit nie ein Begleiter. Sie hat einen großen Freundeskreis, macht Yoga, singt im Chor, spielt Querflöte, engagiert sich in der Kirche. "Ich habe jedoch eine sehr kleine Familie, die meisten sind schon gestorben", sagt die 34-jährige, die in dem belgischen Dorf Hauset lebt und als Kinesiologin in Aachen aktiv ist. Der Austausch tut beiden gut. Dazu braucht es keine großen Worte, oft reicht das Gefühl, dass jemand für einen da ist. Mindestens einmal pro Woche telefonieren Marion Steinert und Anke Hilbig miteinander, sie sehen sich ungefähr zweimal im Monat.

Nach dem Tod ihres Vaters spürte Romana Straub nur noch Leere. "Plötzlich war keiner mehr da", sagt die 64-Jährige. Fünf Jahre zuvor starb ihre Mutter, der Rest ihrer Verwandtschaft wohnt viele Kilometer entfernt in Süddeutschland. Im November 2011 lernte sie im Krefelder Ortsverein der Wahlverwandtschaften Ulrike Hampe kennen — Uli, wie sie sie liebevoll nennt. Uli fuhr sie im Anschluss nach Hause, wobei sich herausstellte, dass die beiden kessen Damen fast Nachbarinnen sind. "Wenn kein Haus dazwischen wäre, könnten wir uns direkt in die Fenster schauen", sagt Ulrike Hampe (72). Vor rund fünf Jahren zog sie von Düsseldorf nach Krefeld, wo ihr Sohn Frank (50) als Yoga-Lehrer aktiv ist. Die meisten ihrer Familienmitglieder wohnen in Norddeutschland. Romana Straub gab ihr Halt in einer Zeit, in der sie sich in neuer Umgebung einsam gefühlt hat. Den Halt gibt sie zurück. Die Beziehung der beiden wurde mit der Zeit immer beständiger. Heute nennen sie sich "Wahlschwestern", die möglichst bald gemeinsam in den Urlaub fahren möchten.

Beiden fällt es schwer zu beschreiben, was das Besondere an ihrer Beziehung ist, was die "Wahlschwestern" nicht stört. Hauptsache, sie ist besonders. Schmunzelnd erinnert sich Romana Straub an den Tag, an dem in ihrer Nachbarschaft eine Bombe entschärft werden musste: "Plötzlich stand Uli vor meiner Tür — schließlich lag mein Haus nicht mehr in der Evakuierungszone. Ich habe sie natürlich aufgenommen."

Zwar sind beide Damen glücklich, sich gefunden zu haben, sie würden sich jedoch freuen, noch mehr potenzielle Familienmitglieder kennenzulernen. "Ich bin ein Mensch, der Menschen sucht — habe also die Hoffnung, dass die Familie noch erweitert wird. Aber jetzt habe ich ja erst mal ,Uli‘", sagt Romana Straub.

(RP)
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