Beginn des 2. Weltkrieges (2) Die kollektive Schuld der Deutschen

(RP). Weltberühmt wurde sie mit jenem Werk, das die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich zusammen mit ihrem Mann verfasste – "Die Unfähigkeit zu trauern" von 1967. Eine der zentralen Thesen darin: Die Verbissenheit, mit der die Deutschen nach Kriegsende die Ruinen beseitigten, zeigt einen manischen Einschlag, verursacht durch die kollektive Verleugnung der Vergangenheit.

"Mythos Germania": So wollte Hitler Berlin umbauen
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(RP). Weltberühmt wurde sie mit jenem Werk, das die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich zusammen mit ihrem Mann verfasste — "Die Unfähigkeit zu trauern" von 1967. Eine der zentralen Thesen darin: Die Verbissenheit, mit der die Deutschen nach Kriegsende die Ruinen beseitigten, zeigt einen manischen Einschlag, verursacht durch die kollektive Verleugnung der Vergangenheit.

Wie sind die deutschen Kinder mit dem Krieg umgegangen?

Mitscherlich Ich höre immer Berichte wie diese: Na ja, mein Vater war im Krieg, aber meine Mutter und die Tanten waren da, und wir fanden es sehr interessant, in den Keller zu gehen und dort zu spielen. Die Kinder, die das Leid nicht unmittelbar erlebten, empfanden den Krieg — so habe ich es auch gehört — als eine amüsante Zeit.

Also erfuhren sie keine Traumatisierungen?

Mitscherlich Sie wurden später traumatisiert, wenn der Vater, oft schwer lädiert, aus der Gefangenschaft zurückkam. Aber solange der Krieg noch gewonnen wurde, hatten viele deutsche Kinder durchaus das Gefühl, dass wir die Größten sind. Auch nach dem Krieg hatten die Kinder nicht so sehr das Gefühl, als Deutsche diskriminiert zu sein. Da kamen etwa die Schwarzen der US-Army, die sehr freundlich waren und ihnen sogar etwas schenkten. Unser früherer Bundeskanzler Gerhard Schröder musste ohne Vater aufwachsen, und dennoch macht er heute einen mehr vergnügten denn traumatisierten Eindruck.

Sie haben der Kriegsgeneration einmal kollektive Verdrängung attestiert. Wie sieht es bei der Generation der Kriegskinder aus?

Mitscherlich Ein kollektives Empfinden tritt erst mit einem Bewusstsein ein, das entdeckt, dass man nicht mit sich und seinen Eltern allein ist. Man muss sich plötzlich an die Schule gewöhnen und lernt langsam, dass man Teil einer größeren Gemeinschaft ist — und kann erst dann ein kollektives Bewusstsein seiner Generation entwickeln.

Wurden die Kinder, die erst nach dem Krieg die Schule besuchten und dort vom schrecklichen Ausmaß des Krieges erfuhren, nachträglich traumatisiert?

Mitscherlich Es gibt so etwas wie die entliehene Schuld. Das ist eine Schuld, die wir alle irgendwo haben. Ich habe mich an keinerlei Grausamkeit beteiligt, und dennoch fühlt man sich schuldig. Man identifiziert sich als Deutscher und wird auch vom Ausland so wahrgenommen. Das hat ja auch die Studentenbewegung aufgegriffen — die Unfähigkeit der Eltern, darüber zu sprechen: etwa über den Führer, der eine Art Ersatzgott war und zu dem schon in den Kindergärten gebetet wurde. Als er tot war, war er eben tot, und man wollte ihn so schnell wie möglich vergessen.

Und die Zeit half dabei?

Mitscherlich In den 50er Jahren habe ich eine Zeitlang in England gelebt, da gab es noch Rationierungen. In Deutschland dagegen war alles wieder in Hülle und Fülle vorhanden. Zusammen mit dem Kalten Krieg war die Versuchung groß, zu fragen: War da mal was? Waren wir mal arm und elend? Waren wir mal die Verbrecher? Hilfreich war dabei auch die Sympathie der Amerikaner uns gegenüber; das Rachebedürfnis war dort nicht so groß wie in den Ländern, die unmittelbar verwüstet und erniedrigt wurden.

Wie lange bleibt das Gefühl einer entliehenen Schuld gültig?

Mitscherlich Die meisten empfinden ja ohnehin keine Schuld. Erinnerung, Trauer und Schuld wurden abgewehrt. Aber wenn wir uns nicht erinnern, werden wir uns nie befreien können. Die Schuld wird dann im Unterbewussten immer seinen Platz haben.

Haben wir denn heute ein eher schuldfreies Nationalbewusstsein?

Mitscherlich Wir sind eine langsam gewachsene und stabile Demokratie; das haben wir fertig gebracht. Wir sind nicht besser als die anderen, aber wir versuchen, es so gut wie möglich zu machen. Und wir machen es so gut wie möglich. Aber dennoch haben wir die Geschichte. Und weil die Geschichte eine Realität ist, ist es eine große Notwendigkeit, sie sich immer wieder bewusst zu machen. Meine Enkelkinder fragen mich natürlich, ob wir damals denn alle verrückt gewesen sind.

Und was antworten Sie?

Mitscherlich Ja, insofern, dass die Menschen einem Mann zujubelten, von dem ein jeder, der seinen Verstand benutzte, wissen konnte, wonach er strebte: nach Krieg.

Wir haben Sie den Krieg erlebt?

Mitscherlich Ich bin vom Krieg eigentlich verschont geblieben. Es gab für mich nur eine Erschütterung, als ich erfuhr, dass es diese Lager gab. Wir wussten von der Ermordung der Geisteskranken, aber wir ahnten damals nur, was man mit den Juden machte. Ich gebe zu, ich bin später in keinem der Konzentrationslager gewesen, weil ich gedacht habe: Das halte ich nicht aus.

Lesen Sie am Dienstag: Der Krieg und seine politischen Folgen — wie sich unser Verhältnis zu den Nachbarstaaten entwickelte.

(RP)
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