Analyse Die große Angst ab 40

Düsseldorf · Obwohl die Deutschen die Wirtschaftskrise gut überstanden haben, hat den Mittelstand die Statuspanik erfasst. Angst vor dem Wettbewerb in allen Lebenslagen lähmt eine ganze Generation, sagt der Soziologe Heinz Bude.

 Laut Soziologen werden aktuelle Leistungsträger derart unter Druck gesetzt, dass sie mit Angst reagieren.

Laut Soziologen werden aktuelle Leistungsträger derart unter Druck gesetzt, dass sie mit Angst reagieren.

Foto: dpa

Die deutsche Mittelschicht hat Angst vor dem Leben. Dabei hat sie so viele Möglichkeiten wie nie zuvor. Die Leistungsträger von heute leben in Frieden, Freiheit und haben die Wahl: Sie dürfen sich Schule, Studiengang, Berufsziel aussuchen, reisen in die ganze Welt, sind frei in der Partnerwahl, entgrenzt durch die scheinbar unendlichen Möglichkeiten des Internets. Und wenn sie Kinder bekommen, stehen auch denen immer mehr Optionen offen: Soll es Englisch schon in der Krabbelgruppe sein? Fußball am Nachmittag oder Klavierunterricht? Und ein Auslandsjahr vor dem Abi oder lieber erst im Studium?

Die Freiheit zu allem ist das Ergebnis des Wirtschafts- und Bildungsaufstiegs vergangener Jahrzehnte. Ein Erfolg. Nur setzt er die Nutznießer unter gewaltigen Druck. Denn die müssen befürchten, falsche Entscheidungen zu treffen - und damit ihre individuellen Chancen, ihren sozialen Status, ihr Lebensglück zu verspielen. Längst gibt es auch in gehobenen Milieus die Bildungsverlierer, die zwar erfolgreich studiert haben, aber leider das falsche Fach. Akademisches Prekariat, in die Selbstständigkeit gedrängte Minimalverdiener, frustrierte Alleinerziehende mit zerschellten Karrierechancen - Herkunft und Ausbildung garantieren heute nichts mehr. Die fetten Jahre sind vorbei.

Aus dem Aufstiegsversprechen vergangener Jahrzehnte sei die Exklusionsdrohung der Gegenwart geworden, schreibt der Soziologe Heinz Bude in seinem neuen Buch "Gesellschaft der Angst". Darum sind die heute 40-Jährigen zwar kompetent, kommunikativ, ehrgeizig - stecken aber voller Furcht. Die Statuspanik hat sie erfasst, die Angst vor dem Abstieg, vor der Ausgrenzung aus der mächtigen Mehrheitsgesellschaft mit ihren Konsumansprüchen.

Die heute 40-Jährigen, die angekommen sind in der Realität des Berufslebens, fürchten, es nicht besser zu machen als die eigenen Eltern. Trotz aller Anstrengungen. Trotz aller Anpassung. Trotz aller Geschicklichkeit.

Charlotte Roche hat in ihrem autobiografischen Buch "Schoßgebete" eine typische Vertreterin der "Generation null Fehler" porträtiert: Elizabeth Kiehl. Sie ist eine ehrgeizige Selbstoptimiererin. Sie will zugleich selbstbewusste Frau, sexuell befreite Ehefrau und fürsorgliche Mutter sein - und muss jede Woche zur Therapeutin, weil ihre Ängste sie sonst fertigmachen. Ihre Generation hat die Lektion von der Eigenverantwortlichkeit gründlich gelernt, hat verinnerlicht, dass sie selbst dafür verantwortlich ist, sich optimal an die Anforderungen von Arbeitsmarkt und Konsumgesellschaft anzupassen, doch ist dieser Leistungsindividualismus eine Bürde. Denn der moderne Mensch hat nicht nur die Wahl. Er steht auch unter erheblichem Konkurrenzdruck.

Arbeitsverhältnisse werden brüchiger, die Halbwertszeit angeeigneten Wissens sinkt. Schon mit 30 erleben Angestellte, wie Jüngere nachrücken, die frischer ausgebildet und williger zur Selbstausbeutung sind. So entsteht die Angst, abgehängt, ausrangiert, ausgegrenzt zu werden. Und in einer Gesellschaft, in der vor allem zählt, was einer sich leisten kann, welche Statussymbole er erwirtschaftet, bedeutet ökonomische Erfolglosigkeit den Tod des sozialen Ichs.

Nun mussten auch Generationen vor den heute 40-Jährigen im Wettbewerb bestehen. Dass dies die aktuellen Leistungsträger derart unter Druck setzt, dass sie mit Depressionen reagieren, ständig über Ausstiege aus ihren Karrieren fantasieren und mit erstaunlichem Selbsthass die Sinnfrage stellen, hat mit Orientierungsverlust zu tun, glaubt Bude. "Die Zeiten, in denen individuelle Tüchtigkeit und gemeinschaftliche Bindung in der Mentalität der Mitte zusammengehörten, sind offensichtlich vorbei", schreibt der Soziologe. Die Milieus driften auseinander, die Gesellschaft registriert das schulterzuckend. Versuche der Umverteilung und Chancenangleichung gelten als naiv.

Da bleibt nur, alles auf die eigene Karte zu setzen, an sich zu arbeiten, um sich das bessere Wohnviertel leisten zu können und den Kindern die Privatschule zu finanzieren. Aus Angst vor Niederlage im Konkurrenzkampf gibt es Helikopter-Eltern, darum landen immer mehr Lehrer im Streit mit verbissenen Eltern vor Gericht. Die Ressourcen für ein geglücktes Leben werden knapper. Der Verteilungskampf brutaler. Und weit und breit taucht kein neues Leitbild auf, das die Menschen ermutigen könnte, Leistung und Konsum nicht über alles zu stellen, sich von ihren Statusängsten zu befreien - die laut Bude in Wahrheit Zukunftsängste sind.

Die erfassen die "Generation null Fehler" unabhängig von ihrem tatsächlichen Lebensstandard. Es geht ja gerade um die Furcht, diesen Standard zu verlieren und zu denen zu gehören, auf die man heimlich herabblickt. Bude bezeichnet das als die "Paradoxie von Privilegiertheit und Verwundbarkeit".

Mit gestiegener Versorgtheit wächst auch das Sicherheitsbedürfnis und mit steigendem Lebensstandard der anderen der Wunsch, nicht zurückzustehen. In der global vernetzten Gegenwart haben die Menschen viele Vergleichsmöglichkeiten, lassen sich schrecken von den Abstiegsszenarien in den europäischen Krisenländern und verfolgen neidisch, wie die immer reicheren Gewinner des Systems die Ansprüche höher schrauben.

Das Optimierungsbemühen der "Generation null Fehler" erstreckt sich bis auf intimste Lebensbereiche. Etwa auf den Schlaf, wie der New Yorker Theorieprofessor Jonathan Crary in seinem Buch "Schlaflos im Spätkapitalismus" feststellt. Militär und Wirtschaft in den USA forschten an Mitteln, die das Schlafbedürfnis des Menschen verringern. Die verängstigten Leistungsbereiten könnten zahlungswillige Abnehmer werden.

In einer überwachen Gesellschaft ist jedes Mittel recht.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort