Serie "Deutsche Momente" 14 Die Botschaft von Prag

Düsseldorf (RP). Bis 18.58 Uhr war der 30. September 1989 ein normaler Samstag. Dann trat Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon der Deutschen Botschaft in Prag und verkündete rund 4000 dort ausharrenden DDR-Bürgern, dass sie in die Bundesrepublik ausreisen dürften. Ein weiteres Fanal für das nahende Ende der DDR.

 Die westdeutsche Botschaft in Prag am 30. September 1989 während der Ansprache des damaligen Bundesaussenministers Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der deutschen Botschaft im Palais Lobkowitz.

Die westdeutsche Botschaft in Prag am 30. September 1989 während der Ansprache des damaligen Bundesaussenministers Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der deutschen Botschaft im Palais Lobkowitz.

Foto: AP, AP

Der Auszug beginnt ganz leise. Während die Menschen hinten im parkähnlichen Garten des Palais Lobkowicz die wundersame Wendung immer noch nicht fassen können, während sie Freudentänze aufführen und hastig ihre Habseligkeiten zusammenpacken, wird vorne das so lange verschlossene Tor der bundesdeutschen Botschaft in Prag geöffnet. Eine junge Frau kommt als erste heraus. Sie weint, stolpert blindlings durch die Gasse, die die Schaulustigen freigemacht haben. Eine ältere Dame tritt ihr sichtlich gerührt in den Weg, nimmt sie ganz kurz tröstend in den Arm. "Ach Gott", sagt sie, "alles Gute und viel Glück."

So begann meine Reportage über den denkwürdigen Abend des 30. September in Prag, die am 2. Oktober 1989 — zufällig ebenfalls ein Montag — in der Rheinischen Post erschienen ist. Die persönliche Geschichte dazu fängt am Freitag zuvor an, nachmittags nach der Konferenz. Die Nachrichtenagenturen berichten von weiter dramatisch steigenden Flüchtlingszahlen und zunehmend chaotischen Zuständen in der Prager Botschaft. Und so reift im Gespräch mit dem Chef ein schon länger gehegter Plan zur Entscheidung: "Wir müssen da selber hin — ich will da hin!"

Also sitze ich am nächsten Morgen im Auto, einem weißen Mitsubishi Galant, der der Redaktion gerade als Testwagen zur Verfügung steht, und nehme von Duisburg aus die A 3 unter die Räder — begleitet von guten Wünschen und Ratschlägen der Kollegen, von denen sich mir besonders der Tipp des Ressortleiters Ausland eingeprägt hat. "Seien Sie an der Grenze korrekt, aber nicht zu konkret", hat er gesagt, "schreiben Sie in den Einreiseantrag als Beruf Verlagsangestellter und nicht Redakteur." Weil ich sonst auch eine Arbeitserlaubnis hätte vorweisen müssen und ohne dieses Papier vermutlich schon am Schlagbaum hätte umdrehen müssen.

Rund 750 Kilometer sind es bis Prag, knapp sieben Stunden Fahrtzeit, womit ich reichlich Muße habe, nachzudenken über das, was mich erwartet und welche besonderen Geschichten ich aus der "Goldenen Stadt" nach Düsseldorf würde schicken können. Denn viele Artikel sind schon geschrieben, viele Bilder gedruckt worden, seit das barocke Botschaftsgebäude im Schatten der Prager Burg für immer mehr verzweifelte DDR-Bürger Die Botschaft von Prag zum Zufluchts- und Hoffnungsort geworden ist. Schon Anfang August, zu Beginn der großen Absetzbewegung aus der DDR, werden in der Prager Botschaft 20 Flüchtlinge gezählt, knapp drei Wochen später wird sie erstmals wegen Überfüllung für den Publikumsverkehr geschlossen. Da halten sich 154 DDR-Bürger im Haus und im Garten dahinter auf.

Doch der Ansturm ist nicht mehr zu bremsen. Wer den Weg die enge und steile Straße Vlasská hinauf geschafft hat und am Haupttor abgewiesen wird, klettert auf der Rückseite über den Zaun. Zelte werden aufgestellt und sanitäre Anlagen, doch bei allem Einsatz von Mitarbeitern der Botschaft und des Roten Kreuzes spitzt sich die Lage mehr und mehr zu. Annähernd 4000 Menschen, darunter viele Kinder, drängen sich auf dem Botschaftsgelände, als ich am Nachmittag Prag erreiche, rasch ein Hotelzimmer nehme und mich per Taxi zum Palais Lobkowicz fahren lasse.

Ortskenntnisse brauche ich dort nicht — ich folge einfach den Menschen, die immer noch zur Gartenseite des vierstöckigen Gebäudes hetzen und ihre in Rucksäcke und Plastiktüten verpackte Habe über den Zaun wuchten. Drei, vier kräftige Leute, die im Laufe der Zeit den einfachsten Kletterweg übers rostige Geländer ausgetüftelt haben, stehen wie gewohnt als Helfer bereit — und für einen verwegenen Moment durchzuckt mich der Gedanke, mich auch von ihnen hinüberziehen zu lassen und mein Reporter-Heil mitten unter den DDR-Flüchtlingen zu suchen.

Gottlob widersteht die Vernunft dem Mut-Ausbruch, denn nichts wäre an diesem Abend mehr zum Scheitern verurteilt gewesen als diese Aktion. Die Menschen, das merke ich schnell auch vor dem Zaun, sind genervt von Enge und Gedränge im einst hochherrschaftlichen Palais, sind zermürbt von der langen, scheinbar aussichtslosen Warterei. Und sie sind aus DDR-Erfahrung misstrauisch.

Wer zu viel fragt, wird bestenfalls als lästig empfunden; wer auch noch Notizen
macht, Namen und Alter aufschreiben will, steht rasch unter Spitzel-Verdacht. Und der zu Hause meist hilfreiche Presse-Ausweis? Geschenkt: "Den kann doch jeder leicht nachmachen." Wichtiger noch im Sinne ertragreicher Reporter-Tätigkeit: Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher ist schon in der Botschaft. Er hat das Gebäude zwar — wie er später erzählen wird — unbemerkt
durch einen Seiteneingang betreten können. Aber auf dem Weg hinauf
in den Kuppelsaal, vorbei anzahllosen in den Sälen aufgebauten Betten und über menschenüberfüllte Treppen, ist er nicht unerkannt geblieben.

"Mensch, der Genscher", sagt erst einer, dann noch einer, und dann geht es wie ein Lauffeuer durch die Reihen: Der Außenminister ist da! Dann steht er — kurz vor 19 Uhr — im Scheinwerferlicht auf dem halbrunden Balkon, und die Spannung, von lauten "Genscher, Genscher"- Rufen nur noch verstärkt, wird körperlich spürbar. Alle wissen, dass etwas passieren wird, aber keiner wagt, das Unglaubliche zu hoffen, bis in eine Atempause der Vorfreude hinein jener erlösende Satz leise, aber deutlich bis in den hintersten Winkel des Parks dringt: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise . . ." Das Ende des Satzes (". . . möglich geworden ist") geht unter.

Tosender Jubel

Tosender Jubel bricht los. Männer und Frauen, Freunde und Fremde fallen sich um den Hals, vollführen Luftsprünge, lassen ihren Tränen freien Lauf. "Wir haben es geschafft", ruft eine Frau immer wieder, als könne sie das plötzliche Glück noch gar nicht fassen, während ein junger Mann freudetrunken sein letztes DDR-Geld in die Menge wirft: "Das brauche ich jetzt nicht mehr." Neben mir überlegt ein Ehepaar aus Bremen im ersten Überschwang, ob es nicht den vierjährigen Enkel gleich über den Zaun heben und im Auto mit nach Haus nehmen soll. Aber die Tochter, die den Eltern nach zehn Jahren in den Westen folgen will, behält einen klaren Kopf: "Dann kommt ihr doch nie über die Grenze."

Also wird nur das Gepäck herübergereicht — Tochter und Enkel steigen freudestrahlend in einen der Busse, die alsbald an der Vorderseite der Botschaft warten. Dass sie zum Bahnhof Liben weit außerhalb in einem Vorort von Prag fahren werden, finde ich schnell heraus. Dass sie mich nicht mitnehmen werden, auch. Und das einzige Taxi, das sich in Botschaftsnähe auftreiben lässt, hat bereits ein amerikanischer Kollege gebucht. Doch der erweist sich als netter Kerl und nimmt mich mit. So sind wir für den Rest der Nacht zu zweit unterwegs, bis endlich der erste Sonderzug nach Hof den Bahnhof verlässt: "Auf Wiedersehen, bis bald!"

Noch ganz unter dem Eindruck der Botschafts-Nacht, erfüllt von Erlebnissen und Emotionen, habe ich beim Schreiben am Sonntag nur das Problem, mich einigermaßen an die verabredete Zeilenzahl zu halten. Um 14 Uhr rufe ich vom Hotelzimmer aus die Text-Aufnahme in Düsseldorf an, erst um 17 Uhr kommt der vereinbarte Rückruf zustande zustande. Das Telefon im Zimmer sei kaputt, heißt es achselzuckend an der Rezeption, so dass ich meinen Text von der offenen Hotelhalle aus für jeden mithörbar durchgeben muss. War da was mit der Arbeitserlaubnis? Also packe ich lieber und mache mich auf den Heimweg, auf dem mich im Radio die guten Nachrichten aus Prag und anderswo begleiten. Glücksmomente für Deutschland, Gänsehaut-Gefühl bis heute: "Wir sind zu Ihnen gekommen . . ."

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