17. Juni 1953 Der Volksaufstand endete im Zuchthaus

Berlin · Für Horst Hertel (77) und seine Freunde begann es als Spaß. Doch dann geriet der Volksaufstand in der DDR heute vor 60 Jahren unter die sowjetischen Panzer. Hertel, einer der letzten Zeitzeugen, wurde als ein Rädelsführer verurteilt.

 Horst Hertel.

Horst Hertel.

Foto: Georg Hilgemann

Wer nicht zum Vaterlands-Verräter werden will, sollte seinen Ausweis lieber zu Hause lassen. Horst Hertel hatte ihn aber dabei an jenem Abend des 18. Juni 1953, der für Jahre sein letzter in Freiheit sein sollte. 60 Jahre später steht Hertel im Flur seines alten Gefängnisses, der heutigen Stasi-Gedenkstätte im Berliner Stadtteil Hohenschönhausen. Der 77-Jährige lugt in seine alte Zelle, er grinst und sagt: "Früher war das Licht heller." Und er denkt darüber nach, wie ihn sein halb verbrannter Ausweis damals zu einem der angeblichen Rädelsführer des Volksaufstandes in der DDR am 17. Juni 1953 machte.

Der 16. Juni 1953 ist ein lauer Sommerabend, als Horst Hertel wenige Tage nach seinem 17. Geburtstag mit Freunden zum Zelten aufs Land fahren will. Aber daraus wird nichts, der Streik bricht los. Der Volkszorn treibt die Protestierenden durch die Straßen. Gegen die Erhöhung der Arbeitsnorm um zehn Prozent, bald gegen das sozialistische Regime allgemein. Nicht nur in Berlin, sondern in 500 Städten der DDR erhebt sich Protest. Und Hertel, der als Abschmierer bei der Deutschen Kraftverkehr Fahrzeuge pflegt, zieht mit. "Ich hatte nichts gegen die DDR, auch wenn im Westen das schöne Leben war und bei uns nicht", sagt er.

Aber er ist neugierig, hat Lust auf die Masse. Er folgt dem Aufruf zur Demonstration. Auch am nächsten Tag lässt er die Arbeit liegen und streikt. Hertel und seine Freunde ziehen mit durch Berlin, skandieren Parolen. "Nieder mit der Regierung!", "Freie Wahlen" oder "Weg mit dem Spitzbart!" Gemeint ist Walter Ulbricht, der Mann an der Spitze des Zentralkomitees der SED. Am Alexanderplatz schmeißt Hertel eine Schaufenster-Scheibe ein. Dann ist die Demonstration für ihn erledigt. Von den sowjetischen Panzern, die am 17. Juni den Aufstand niederwalzen und dem überforderten ostdeutschen Regime die Macht erhalten, bekommt er kaum etwas mit. Der Spaß ist vorbei, er hält es noch für eine kleine Dummheit. "Mir war nie bewusst, dass da ein Volksaufstand draus werden würde", sagt Hertel.

Einen Abend später hockt er mit Freunden vor dem Häuserblock, in dem er mit seinen Eltern wohnt, als Polizeiautos vor dem Haus halten. Volkspolizisten greifen sich die Gruppe, verlangen nach den Ausweisen. Hertel hat seinen dabei. Mit einer Zigarette hat er eine Woche vorher einen Teil des Dokumentes angekokelt. Bereitwillig zeigt er den Fetzen den Beamten — und wird sofort verhaftet. "Mir hat nur eine Minute zur Flucht gefehlt", sagt er. Hätte er den Ausweis doch zu Hause gehabt, über die Dächer wäre er geflohen oder durch die Kuhställe im Hinterhof getürmt. Eine Decke über dem Kopf raubt ihm das Tageslicht, blindlings wird er in ein Auto gestopft und durch Berlin gefahren und landet im Untersuchungsgefängnis. Der Vorwurf: Der halb verbrannte Ausweis zeuge von Sympathie für den faschistischen Westen.

Hertel glaubt noch, alles würde sich klären. Auch, als er sich nackt ausziehen und mit dem Gesicht zur Wand stellen soll, will er nur wissen, was denn aus seinen Sachen werden soll. Doch die Vernehmungsbeamten interessieren sich für etwas anderes. Als er das Protokoll der ersten Vernehmung liest, traut er seinen Augen kaum. Er soll ein Rädelsführer des 17. Juni gewesen sein, einer, der die Massen zum Aufstand aufgewiegelt hat, die DDR-Fahne soll er vom Brandenburger Tor gerissen haben. Er weigert sich, zu unterschreiben. Und muss dafür in die Zelle. Vier Wochen lang eingesperrt, verhört, und wieder eingesperrt, wieder verhört — immer mit dem gleichen Protokoll. Die Beamten in Hohenschönhausen haben Geduld. Hertel nicht. Am 24. August bricht er ein. "Irgendwann kannst du nicht mehr. Jeder hat das Gefängnis nur mit einem Geständnis verlassen", sagt er. Später wird er als einer von rund 1500 Verhafteten zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, die Strafe hat der spätere Stasi-Chef Erich Mielke persönlich noch vor Prozessbeginn angeordnet.

Hertel fügt sich, er arbeitet, gehorcht, ist fleißig. "Ich wollte nach Hause, nicht den Revolutionär spielen", sagt er. Nach sechs Jahren wird er wegen guter Führung entlassen. Kaum ist er draußen, türmt er nach Westberlin, gerade rechtzeitig vor dem Mauerbau. Erst dort wird ihm klar: Der 17. Juni ist der Nationalfeiertag der Bundesrepublik. Seine Dummheit, ein Tag der Einheit. "Dadurch war der Tag doch etwas wert", sagt er. "Aber ich habe mich niemals mehr irgendwo eingemischt."

(RP/hüls)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort