Stress und Hektik gehören zu Weihnachten Der beschleunigte Advent
Düsseldorf · Viele Menschen klagen in diesen Tagen über Stress beim Geschenke-Kauf und Konsumterror in der Innenstadt. Aber man kann es auch anders sehen: Die Hektik gehört zur Vorfreude aufs Fest, glaubt unser Autor Philipp Holstein.

Die schönsten Weihnachtsmärkte in Deutschland
Zum Beispiel mein Sohn: David ist fünf Jahre alt und wünscht sich eine "Metalleisenbahn" zu Weihnachten. Er meint damit die klassische Märklin-Bahn, aber das Wort Metall ist wichtig, weil es Davids Entwicklung weg von der Holzeisenbahn dokumentiert. Metalleisenbahn bedeutet Erwachsenwerden, sie ist das Versprechen auf Zukunft. Einerseits.

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Andererseits erzählte ich meinem Vater von dem Wunsch seines Enkels. Er war einst begeisterter Modellbahner, aber seit Ewigkeiten lagern die Züge und Waggons von Zeitungspapier geschützt und in Kartons verpackt auf dem Dachboden. "Ich gucke mal, was wir noch haben, und das schenke ich dann David." Mein Vater ist 87 Jahre alt, und ich hörte Wehmut in seiner Stimme, aber auch Vorfreude. Wenige Tage später schickte meine Schwester ein Handyfoto.
Andächtiger Blick auf Mini-Lok
Darauf sah ich meinen Vater und seinen besten Freund Ferdi Engelmann, mit dem er sich jeden Donnerstagabend zum Opernhören trifft. Sie saßen am Wohnzimmertisch und blickten andächtig auf eine Miniatur-Lok, die auf einem Schienenkreis fuhr. "Isoldes Liebestod" in der Spurbreite H0: Schöner kann Rückschau nicht sein.
Ich erzähle das, weil ich gerade so viele Menschen klagen höre über diese Zeit. Der Advent bedeute im Grunde nur Stress, sagen sie. Man müsse zusehen, dass alle Geschenke beisammen sind, Besuchstermine finden, mit denen Eltern und Schwiegereltern leben können, und planen, wann man den Weihnachtsbaum kauft — nicht zu weit im Voraus, aber auch nicht allzu knapp vorm Fest. Überhaupt kaufen: Genau genommen sei die Vorweihnachtszeit nur mehr ein Festival des Konsums, Großangriff der Werbetreibenden und der Sieg des Kitsches über Stil und Verstand.
Ein Bekannter stellte gar die These auf, kurz vor Weihnachten werde besonders viel Reklame für "Rennie" im Fernsehen gesendet, dieses Mittel gegen Magensäure. Erst die Weihnachtsgans, dann "Rennie", das sei pervers. In der "Zeit" las ich passend dazu, Weihnachten sei die Unterschicht unter den Festen: "mächtig aufgedonnert, aber von fragwürdigem Geschmack".
Weihnachsstress hält lebendig
Ich bin anderer Meinung. Natürlich weiß ich, was die Leute meinen. Aber ich glaube einfach nicht, dass der Weihnachtsbetrieb den Kern des Festes verrät, ich denke vielmehr, dass er ihn im Gegenteil sogar lebendig hält. Die Mutter meiner Freundin etwa ruft mich jedes Jahr kurz vor Weihnachten an und fragt mich, ob ich nicht noch etwas wisse, das Sandra gefallen könne, eine Kleinigkeit, mit der sie sie überraschen würde. Ich weiß, dass dieser Anruf kommt, ehrlich gesagt freue ich mich darauf, und ich bin in diesen Tagen besonders aufmerksam, wenn Sandra vor Schaufenstern stehen bleibt oder im Internet Wunschlisten füllt.
Ich will auf diese Anrufe vorbereitet sein. Sandras Mutter bittet mich, das betreffende Stück zu besorgen und zu Weihnachten mitzubringen. Das bedeutet Aufwand und möglicherweise zusätzlichen Stress. Aber das macht nichts. Es gehört zum Ritual, dass ich mein Auto an Weihnachten vor Sandras Elternhaus parke, die Tür an der Beifahrerseite unverschlossen lasse und das Geschenk auf dem Sitz deponiere. Sandras Mutter holt es heimlich raus und legt einen Umschlag ins Handschuhfach, darin die Auslagen und ein Zettel mit der Aufschrift: "Das Christkind dankt". Das finde ich schön.
Forscher unterscheiden zwischen negativem und positivem Stress, und dieser gehört eindeutig zur letzten Kategorie. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2007 ergab, dass um Weihnachten zehn Prozent weniger Herzinfarkte dokumentiert werden, vielleicht ist das ein Beweis. Während man einkauft und durch die Innenstadt hetzt, hat man vor Augen, wie der Beschenkte sich freut, welche Wirkung das, was man gerade tut, zu einem bestimmen Zeitpunkt hat. Der Kaufrausch wird gewissermaßen zum Akt der Vorfreude, zur Geste des Miteinanders, zum Bekenntnis.
Einkauf ist Mikro-Rebellion
Er bekommt Transzendenz. Ich meine sogar, dass der Weihnachtseinkauf so etwas wie Mikro-Rebellion bedeutet, ein Aufstand gegen den Konsum oder besser: gegen das Konsumieren. Man kann nun sagen, ich redete mir das schön, denn das Geld sei ja futsch, und die Geschäfte und Konzerne machten so oder so ihren Schnitt — ob man den Bezahlvorgang nun als Widerstand betrachtet oder nicht. Und doch fühlt sich dieses Kaufen anders an: Ich stelle die Dinge in einen anderen Zusammenhang, in den Dienst der Tradition. Ich ordne sie dem Arrangement unter.
Stärker als bei anderen Gelegenheiten werden die Dinge beseelt von dem Wunsch, den anderen zu beglücken. Sie sind Symbol. Meine Mutter erinnert mich jedes Jahr daran, dass ich zu Weihnachten Kuchen von Leysieffer mitbringen möge. Als Mädchen war sie im Internat in Osnabrück, und einmal in der Woche ging sie mit ihren Freundinnen zu Leysieffer Kuchen essen. Sie hat mir das vor vielen Jahren erzählt, eher beiläufig, und sie sagte damals, dass diese Verabredungen die Höhepunkte der Woche gewesen seien.
Ich bin davon überzeugt, dass Kuchen von Leysieffer schmecken kann, wie er will, es steckt darin für meine Mutter immer die Erinnerung an eine schöne und verlorene Zeit. Deshalb bringe ich den Kuchen mit, denn Weihnachten ist dazu da, das Sentiment und den Kitsch zu genießen. Im Kitsch drückt sich das Fernweh nach einem besseren Leben aus; das wusste schon der Philosoph Ernst Bloch.
Die Vorweihnachtszeit hat einen Fluchtpunkt, und das ist der Heilige Abend, an dem man Zeitvergessenheit inszeniert, von ewiger Dauer träumt und die eigene Zeitgenossenschaft überdenkt. Das Symbol der Weihnacht ist das Neugeborene in der Krippe, und das ganze Fest ist der Restkindlichkeit in jedem von uns gewidmet. Es appelliert an die weichen Seiten der Persönlichkeit, an Gerührtsein und Berührtwerden. Man bekennt sich zu elementaren Sehnsüchten. Das Festhalten an den Traditionen der eigenen Familie ist ein Ausdruck dafür.
Romantisches Vorgehen
So ist alles, was wir nun tun, verbunden mit der Weihnachtsgeschichte, sie bildet das unsichtbare Gerüst selbst der anstrengendsten Tage. Wer selbst Kinder hat, spürt diesen Aspekt umso stärker. Man kehrt zwar müde aus dem Spielzeuggeschäft heim, aber nicht erschöpft. Die Lider sind nicht schwer, aber zwischen Brust und Magen ist etwas los. Man ist aufgeregt, wahrscheinlich hat man sogar heimlich eingekauft, und nun muss man das Gekaufte noch verstecken. Das ist ein romantisches Vorgehen, genauso übrigens wie der Brauch, einen Tannenbaum aus dem Wald zu holen und in die Wohnung zu stellen. Und Romantik gönnen wir uns heute vor allem, wenn wir es uns gut gehen lassen möchten.
Es mag einem so vorkommen, dass es in den Straßen im Dezember immer hektischer wird, noch hektischer als im Vorjahr und viel hektischer als früher, dass der Advent also immer stärker beschleunigt wird. Solche Konsumkritik gehört indes zu Weihnachten, vermutlich ist sie Zeichen für die Sorge um das Fest, an dem allen besonders viel liegt. Die englische Zeitung "Guardian" druckte im vergangen Jahr zu Weihnachten einen Text, der 100 Jahre zuvor im selben Blatt erschienen war.
Der Autor beschrieb die neuartigen Weihnachtsdekorationen in den Kaufhäusern und wertete den Schmuck als Anfang vom Ende aller Werte. Jedes Jahr befragen wir uns selbst aufs Neue, ob alles noch angemessen ist, ob der Glanz tatsächlich von innen kommt oder ob bloß die Oberflächen poliert wurden und wir uns blenden lassen. Ich jedenfalls renne mit, kaufe etwa für Sandras Mutter, gehe zu Leysieffer und male mir aus, wie mein Vater seine Metalleisenbahn an David übergibt. Stressig.
Einen Advent ohne diesen Stress möchte ich aber nicht erleben.