Gastbeitrag von Manfred Lütz Das unbekannte Christentum

Düsseldorf · GAstbeitrag Wer über die Zukunft unserer Gesellschaft sprechen und Europas Quellen verstehen will, der braucht Wissen über die Religion. Sogar die Christen selber schämen sich inzwischen sicherheitshalber für ihre eigene Geschichte.

"Mitleid ist eine christliche Erfindung": Jesus am Kreuz.

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Wer über die Zukunft unserer Gesellschaft sprechen und Europas Quellen verstehen will, der braucht Wissen über die Religion. Sogar die Christen selber schämen sich inzwischen sicherheitshalber für ihre eigene Geschichte.

Der Autor Manfred Lütz (64) studierte Medizin, Philosophie und Theologie. Der Psychotherapeut ist Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln. Zuletzt erschien von ihm "Der Skandal der Skandale" (gemeinsam mit Arnold Angenendt).

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Ostern ist das Fest der Erlösung der Menschen durch Gott. Das glauben die Christen. Für alle anderen klingt das verdammt mythologisch, und auch die Christen selber gehen bei der Erklärung nicht mehr gerne ins Detail. Wozu Erlösung? Der Mensch ist frei. Die Aufklärung hat ihn längst aus seiner "selbstverschuldeten Unmündigkeit" befreit, wie Kant formulierte.

Befreit auch aus den Verstrickungen eines kirchlichen Glaubens, der mitunter eher Untertanen als freie Geister hervorbrachte. Fest der Erlösung, das klingt nach neuer Unmündigkeit. Allerdings schätzt man allgemein zu Ostern und an anderen Festen noch die "Rituale", wie man sagt. Wie wichtig Rituale sind, darüber freuen sich auch manche Kirchenleute, ohne zu merken, dass genau dann, wenn vom Christentum nur noch die Rituale übrig geblieben sind, der Letzte die Tür zumachen kann. Dann ist es definitiv vorbei mit dieser Religion.

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse

Da erstaunt, dass es inzwischen ausgerechnet Atheisten und Agnostiker sind, denen die Erosion des Christentums Sorgen bereitet. Jürgen Habermas hat schon 2001 dafür plädiert, den religiösen Bürger im säkularen Staat als religiösen Bürger ernst zu nehmen und ihm nicht zuzumuten, für den öffentlichen Diskurs seine Religion an der Garderobe abzugeben.

Und was die Geschichte des Christentums betrifft, kommen gar nicht von Christen selber, sondern von säkularen Wissenschaftlern inzwischen ganz andere Töne. Der renommierte Harvard-Soziologe Orlando Patterson, ein Experte für die Geschichte der Sklaverei, formuliert: "So wurde das Christentum die erste und einzige Weltreligion, die zum höchsten religiösen Ziel die Freiheit erklärte." Nicht die Aufklärung, sondern das Christentum habe die Sklavenbefreiung erreicht, sagt die Sklavenforschung, weil es an die Erlösung, die Befreiung der Menschen - aller Menschen - durch Gott glaubte.

Aber kann das sein? Da waren doch Kreuzzüge, Hexenverfolgung, Inquisition und all die anderen historischen Skandale. Sogar die Christen selber schämen sich inzwischen sicherheitshalber für ihre eigene Geschichte - allerdings ohne sie wirklich zu kennen.

Doch wenn tatsächlich 2000 Jahre Christentum ein einziges Fiasko waren, dann ist eine Religion, die an die Menschwerdung, an die Geschichtewerdung Gottes glaubt, diskreditiert. Allen Beteuerungen von Kirchenrepräsentanten, man werde nun alles besser machen, kann ein gescheiter Atheist doch nur entgegnen: Dann warten wir mal 2000 Jahre, ob es tatsächlich besser wird.

"Das christliche Abendland"

Nun hat in den vergangenen Jahren die internationale Forschung spektakuläre Ergebnisse zur Geschichte des Christentums erbracht. Es waren nicht Kirchenleute, die sich da an die Arbeit begeben haben, sondern eben säkulare Wissenschaftler, Historiker, Soziologen und andere. In bestem aufklärerischen Geist zerstörten sie langgeglaubte Mythen und förderten Erkenntnisse zutage, die oft geradezu unglaublich klingen.

Diese Erkenntnisse treffen auf eine gesellschaftliche Debatte, wo man von links außen bis rechts außen, aber auch in der breiten Mitte das Christentum für sich beansprucht. Die CDU spricht vom "christlichen Menschenbild", Pegida vom "christlichen Abendland" und alle von "christlichen Werten". Die Verwendung des Wortes "christlich" ist dabei inzwischen völlig beliebig.

Es gibt aber eine Möglichkeit, diese Beliebigkeit aufzuheben. Und das ist die Kenntnis der Geschichte der christlichen Religion, die eben nicht beliebig ist. Wie haben Christen jahrhundertelang ihre heiligen Texte verstanden, was haben sie daraus für praktische Konsequenzen gezogen, und vor allem mit welchem Ergebnis? Auch Atheisten müssen das wissen, wenn sie die geistigen Quellen Europas verstehen wollen.

Die Ergebnisse der Forschung sind frappant: Wer weiß schon, dass Toleranz eine christliche Erfindung war? Im klassischen Latein bedeutete "tolerantia" das Tragen von Lasten, zum Beispiel von Baumstämmen. Erst die Christen machten daraus das Ertragen von Menschen anderer Meinung, weswegen Habermas das Christentum zur "Genealogie der Menschenrechte" zählt. Wer weiß, dass im gesamten ersten Jahrtausend die Christen als erste große Religion keine Ketzer töteten, weil Jesus im berühmten Unkraut-Weizen-Gleichnis erklärt hatte, dass man das Unkraut nicht ausreißen dürfe, sondern das letzte Urteil Gott am Ende der Zeiten überlassen müsse?

Eine christliche Erfindung

Mitleid ist eine christliche Erfindung. Die Heiden hatten kein Mitleid. Behinderte galten als von den Göttern geschlagen, und man fürchtete den Zorn der Himmlischen, wenn man ihnen half. Gregor Gysi sagte 2005 in der Evangelischen Akademie in Tutzing, er sei Atheist, aber er habe Angst vor einer gottlosen Gesellschaft, weil der die Solidarität abhanden kommen könne. Sozialismus sei schließlich nichts anderes als säkularisiertes Christentum. Ein prophetischer Ausspruch.

Auch Internationalität ist eine christliche Erfindung. Für die Stammesreligionen galt nur das Mitglied des eigenen Stammes als Mensch und das eigene Volk als das einzig wahre. Die Christen mussten akzeptieren, dass alle Menschen und alle Völker vor Gott gleich waren. Deswegen war es die Christianisierung, wie die Reichstheoretiker Karls des Großen betonten, durch die es gelang, dass die germanischen Völkerschaften sich gegenseitig nicht andauernd den Schädel einschlugen. Wer heute behauptet, nationalistisches, völkisches Denken sei mit dem "christlichen Abendland" vereinbar, der äußert keine falsche Meinung, sondern ihm fehlt schlicht historische Bildung.

All das muss man über das Christentum wissen, wenn man die kommenden Debatten über die Grundlagen unserer Gesellschaft führen will. Dabei darf man die Fehlentwicklungen nicht ausblenden, die Ketzertötungen nach dem Jahr 1000, die Kreuzzüge. Aber auch da muss man den Stand der Forschung kennen und nicht bloß die Propaganda der totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts.

(RP)