Ausschreitungen und Demonstrationen So ist die Lage in Chemnitz vier Wochen danach

Chemnitz · Bis vor vier Wochen war Chemnitz kaum im Fokus der Menschen. Seit dem Tod eines 35-jährigen Deutschen und tagelangen aggressiven Protesten blickt nun ganz Deutschland auf die Stadt. Die Lage ist vier Wochen danach kompliziert.

Chemnitz: Tausende protestieren gegen Rechts und gegen Flüchtlinge
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Tausende protestieren in Chemnitz gegen Rechts und gegen Flüchtlinge

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Foto: dpa/Ralf Hirschberger

21 Uhr, die Fußgängerzone in der Chemnitzer Innenstadt. Kaum jemand ist unterwegs. Es ist friedlich und ruhig. So stelle sich momentan wohl niemand Sachsens drittgrößte Stadt vor, sagt der gebürtige Chemnitzer Hans Reinhardt, der an diesem Abend mit Freunden unterwegs ist. „Egal, wohin man kommt - die Leute sagen: Oh Gott, Chemnitz.“ In seinen Augen ist die Stadt aber auch in der momentanen Ausnahmesituation so viel mehr als die gewaltsamen Demonstrationen der jüngsten Zeit. Das sehe nun aber keiner mehr. Stefanie Jähn, eine Freundin Reinhardts, findet: „Wenige rücken viele in ein schlechtes Licht.“

Trotz des normalen Alltags: Rund vier Wochen nach der Tötung eines 35-jährigen Deutschen durch mutmaßlich Flüchtlinge und anschließender ausländerfeindlicher Proteste und Gegenproteste ist die Stadt im Krisenmodus. Bundesweit schaut man schockiert dorthin. Wie kann sich Rechtsextremismus und -populismus im Freistaat derart Bahn brechen? In Chemnitz versuchen alle, Antworten zu finden.

Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) glaubt, dass es nicht die eine Erklärung für die Geschehnisse gibt. In den Gesprächen mit Bürgern kristallisierten sich vor allem drei Themen heraus: Frust über empfundene Ungerechtigkeiten, ein bedrohtes Sicherheitsgefühl sowie eine Unzufriedenheit mit der Migrationspolitik. Und sie gibt sich vier Wochen nach dem Tötungsfall selbstkritisch: „Was ich nicht in dieser Deutlichkeit gesehen habe ist, dass die Wut der Chemnitzer so stark ist.“

Ludwig sorgt sich um den Zusammenhalt und das Bild der Stadt. „Es hat sich in der Stadt ein Graben aufgetan, von dem wir noch nicht wissen, was von dem Erreichten für die Stadt darin verschwindet“, sagt sie. Um Chemnitz zu befrieden, will sie nun vor allem mit den Bürgern ins Gespräch kommen und etwa bei Sicherheitsthemen Führung zeigen.

Mit den Bürgern ins Gespräch kommen, das wollen viele. Dienstagabend im Kraftwerk, das von einem Verein für Veranstaltungen genutzt wird: Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) hat im Rahmen seiner Küchentisch-Tour die Bürger zum Dialog eingeladen. Rund 150 Menschen sind gekommen. Es ist eine Veranstaltung von mehreren zur Zeit in der Stadt: Ludwig hat nach den Ausschreitungen zum Dialog eingeladen, die Regierung war zum „Sachsengespräch“ da und auch die Kirchen planen Gesprächsformate.

Schnell geht es an diesem Dienstag um die Proteste in Chemnitz. Ein Mann trägt Textzeilen aus den Songtexten der Bands vor, die beim großen „#wirsindmehr“-Konzert unter anderem mit den Toten Hosen und Kraftklub aufgetreten sind. Damit identifiziere er sich nicht, sagt er. Wie die SPD das unterstützen könne?

Es ist ein Punkt, der auch Reinhardt und seine Freunde umtreibt. Auf den Demos werden nach ihrem Empfinden sehr rechte oder sehr linke Meinungen repräsentiert - die Mitte aber fehle. „Genauso wenig wie "Ausländer raus" möchte ich "Nazis aufs Maul" hören“, sagt Reinhardt. „Gewalt gehört nicht hierher.“ Die Gruppe glaubt, dass die Mehrheit in Chemnitz auf den Demos nicht repräsentiert wird.

Dulig sagt, er sei mit den Texten auch nicht einverstanden. Aber eigentlich könne das nur ein Aufruf sein, selbst mit dem Gebrauch von Sprache vorsichtig zu sein. Und er wirbt immer wieder dafür, als Mitte nicht alles der Politik zu überlassen, sondern selbst aktiv zu werden.

Fehlende Aktivität kann man Nico Köhler vom AfD-Kreisverband Chemnitz nicht nachsagen: Er hat den Protest der AfD in Chemnitz mitorganisiert. Der Tötungsfall ist in seinen Augen „der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat“. Die Politik höre den Bürgern nicht zu. Die Wut darüber äußerten sie nun.

Köhler ist selbst seit zwei Jahren in der AfD, davor war er bei der CDU. Dort sei er ausgetreten, nachdem er das Gefühl gehabt habe, sich nicht einbringen zu können. Die kommunale Ebene dringe bis zu den Verantwortlichen nicht durch. Zum Bruch mit der CDU kam es wegen eines Streits um ein Asylbewerberheim in Chemnitz-Einsiedel.

Eine Mitschuld der AfD an den gewalttätigen Ausschreitungen weist Köhler von sich. Ein paar „Chaoten“ gebe es immer, die AfD lehne Gewalt ab. Die CDU wolle die AfD zum Sündenbock machen. „Aber was hat die CDU denn getan, um die Spaltung der Gesellschaft zu verhindern?“

Auch Frank Manneschmidt hat Protest mitorganisiert. Er ist Superintendent der Evangelischen Kirche im Bezirk Chemnitz. Zur Veranstaltung der Kirche kamen rund 1500 Menschen. „Deutlich weniger als bei den anderen, aber immerhin“, sagt er. Der Anspruch der Kirche sei gewesen, auch der „Mitte der Gesellschaft“ beim Protest eine Stimme zu geben.

Manneschmidt ist erst seit Juni 2018 in der Stadt. Davor war er viele Jahre Pfarrer in Zwickau. Er ist trotz der Proteste bislang sehr gern in der Stadt. Die Situation erlebt er mittlerweile als beruhigt, aber angespannt. „Das Gefühl, da kann man nur beten, dass das glimpflich abgeht, das habe ich nicht mehr“, sagt er.

Eine „braune Stadt“ hat er bislang nicht erlebt, eher einen „Schulterschluss“ der bürgerlichen Mitte in der Stadt. Kurz nach den ersten Ausschreitungen seien rund 25 Vertreter aus Wirtschaft, Arbeiterwohlfahrt, Medien, Vereinen und Kirche bei der Oberbürgermeisterin gewesen. Alle seien sich einig gewesen, dass man nun zusammenstehen müsse.

Die Gefahr für die Stadt sei allerdings groß, sagt Manneschmidt. Unklar sei, welche negativen Folgen die Demonstrationen etwa für die Wirtschaft und die Hochschule der Stadt hätten. Er berichtet von einer Bewerbung für eine Stelle in der Kirche in Chemnitz, die unmittelbar nach den Ausschreitungen aus nicht genannten Gründen zurückgezogen worden sei. Er erzählt auch von einer Seniorengruppe, die ihre Reise nach Chemnitz wegen der Demos abgesagt habe.

„Es gibt die Mitte“, sagt Manneschmidt. Die sei allerdings schwer hinter dem Ofen hervorzulocken. „Und die Frage ist, wie groß sie ist.“

(felt/dpa)
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