Prozess-Beginn in Münster "Bemüht, neuere, realistischer Übungslagen zu schaffen"

Münster/Coesfeld (RPO). Einer der größten Skandale in der Geschichte der Bundeswehr beschäftigt das Münsteraner Landgericht. Es soll geklärt werden, ob die Ausbilder aus sadistischen Motiven gehandelt haben. Kompaniechef Ingo S. bemühte sich in seiner ersten Stellungnahme, die Vorwürfe zu relativieren.

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Foto: ddp

Er selbst habe einmal mehr durch Zufall eine der umstrittenen Übungen besucht. Er habe dort "muntere, ausgelassen Soldaten" gefunden, berichtete der Hauptmann.

Die beiden Zugführer und Initiatoren der umstrittenen Geiselnahme-Übungen, Martin D. und Michael H., erklärte zu Prozessbeginn, nichts von Stromstößen gegen die Rekruten mitbekommen zu haben. Die in der Ausbildungsordnung nicht vorgesehenen Übungen hätten sich an ihrer eigenen Ausbildung für Einsätze in Afghanistan und auf dem Balkan orientiert, betonten die beiden Angeklagten.

Der Kompaniechef und 17 Ausbilder eines in Coesfeld stationierten Instandsetzungsbataillons müssen sich wegen des Vorwurfs verantworten, im Sommer 2004 insgesamt 163 Rekruten bei fingierten Geiselnahmen mit Stromstößen gequält, getreten und gedemütigt zu haben. Bei einer Verurteilung drohen den Angeklagten bis zu zehn Jahre Haft.

Einer der Ausbilder, durchweg Unteroffiziere, rechtfertigte die fingierte Geiselnahme mit den Worten: "Wir waren bemüht neuere, realistischere Übungslagen zu schaffen". Während seiner eigenen Ausbildung habe er ähnliche Trainingseinheiten als sinnvolle Ausbildung für mögliche Schwierigkeiten im Auslandseinsatz erlebt. Der 33-Jährige beteuerte, auch die Rekruten hätten sich im Nachhinein euphorisch geäußert.

Staatsanwalt Michael Frericks warf den Angeklagten dagegen gefährliche Körperverletzung und entwürdigende Behandlung der Rekruten vor. Bei den simulierten Gefangennahmen und nachgestellten Verhören waren die jungen Soldaten der Staatsanwaltschaft zufolge von ihren Ausbildern mit Stromstößen, Schlägen und Fußtritten misshandelt sowie beschimpft worden.

Die Behauptung der Angeklagten, es habe sich um eine Übung gehandelt, sei schon deshalb nicht akzeptabel, weil vorher keine Unterweisung der Rekruten über das Verhalten bei einer Geiselnahme stattgefunden habe, erklärte der Staatsanwalt. Außerdem seien das Fesseln der Soldaten und die Anordnung von Liegestützen als Strafmaßnahme ausdrücklich nicht erlaubt.

Das Bekanntwerden der Vorfälle hatte im November 2004 zu einer Welle öffentlicher Empörung geführt. Die Misshandlungen ereigneten sich der Anklage zufolge zwischen Juni und September 2004 im Anschluss an Nachtmärsche des Instandsetzungsbataillons.

82 Rekruten sollen gequält worden sein

Beim ersten Vorfall im Juni 2004 waren nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft 82 Rekruten von neun Ausbildern mit verbundenen Augen sowie gefesselten Händen zu einer nahe gelegenen Sandgrube gebracht und dort verhört und gequält worden. Zwei Soldaten erlitten dabei laut Staatsanwaltschaft Brandnarben an Nacken und Hand, die von Zigaretten stammten. Die anderen Vorfälle hätten sich im Keller der Kaserne in Coesfeld-Flamschen ereignet. Hier erhielten laut Staatsanwaltschaft mehrere Soldaten Stromstöße, die mittels eines Feldtelefons erzeugt wurden.

Die Rekruten hatten den Ermittlungen zwar jederzeit die Möglichkeit, durch ein Codewort die Übung abzubrechen. Davon wurde aber laut Staatsanwaltschaft nur selten Gebrauch gemacht, da das Codewort "Tiffy" in der Kompanie mit "Weichei" gleichgesetzt worden sei.

Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe, verurteilte die Vorgänge. Die Bundeswehr-Ausbilder seien nicht befugt gewesen, eine Geiselnahme einzuüben, sagte er im Hessischen Rundfunk: "Solche simulierten Geiselnahmen dürfen nur in Anwesenheit von Ärzten, Psychologen und Seelsorgern gemacht werden." Alle Institutionen müssten in Zukunft darauf achten, dass sich solche Dinge nicht wiederholten. Der Prozess wird voraussichtlich bis zum Jahresende dauern.

(afp)
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