Wohin würde Jesus heute gehen? Bei den Jungs aus der Siedlung

(RP). In der Bergpredigt sagt Jesus: "Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden satt werden." In Deutschland bekommen viele Jugendliche keine Chance, ihre Talente zu entfalten. Vielleicht würde Jesus heute gerade diese jungen Menschen treffen – Jugendliche wie die Jungs aus Düsseldorf-Garath.

 Ein Blick in die Siedlung.

Ein Blick in die Siedlung.

Foto: RP, Andreas Krebs

(RP). In der Bergpredigt sagt Jesus: "Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden satt werden." In Deutschland bekommen viele Jugendliche keine Chance, ihre Talente zu entfalten. Vielleicht würde Jesus heute gerade diese jungen Menschen treffen — Jugendliche wie die Jungs aus Düsseldorf-Garath.

 "Abhängen" auf der Straße.

"Abhängen" auf der Straße.

Foto: RP, Andreas Krebs

Marcello trommelt die Jungs zusammen. Er fühlt sich erst wohl, wenn sie alle da sind, Adrian, Justin, Ibo und die anderen. Sie begrüßen sich mit speziellem Handschlag: Faust anstoßen, Handflächen streifen, abklatschen. Es ist ihr Ritual, ein verschwörerisches Zeichen. Wer es kennt, gehört dazu. Und wenn alle da sind, können die Jungs losziehen durch ihr Revier, durch Garath, einen Stadtteil tief im Süden Düsseldorfs. Vielleicht gibt es ja heute etwas zu erleben.

Marcello ist 16 und der Anführer der Gang. Auch wenn die anderen sagen, es gäbe keinen Anführer. Zumindest redet Marcello am meisten. Und er ist ein cleverer Junge, schlagfertig, sprachgewandt. Über sein Viertel referiert er abgeklärt wie ein Sozialarbeiter. Manche Eltern in dieser Gegend brächten schon ihren Kindern bei, mit Steinen zu werfen, wenn die Polizei vorfährt. "Selbst kleine Kinder haben hier keinen Respekt", sagt er.

Garath ist ein berüchtigter Stadtteil in Düsseldorf, aber kein Brennpunktgebiet für die Polizei. Trotzdem zeigt sie Präsenz in der Siedlung, fährt jeden Abend Streife, kontrolliert Papiere, hat die Bewohner im Blick. Die Jungen sitzen dann oft auf einer niedrigen Begrenzungsstange am Straßenrand. Manchmal rennen sie los, wenn die Polizei kommt, damit die Beamten sie verfolgen. "Siedlungsfangen" nennen sie das und erzählen stolz, wer gestern geschnappt wurde. Und wer nicht.

Die Stange an der Straße ist der abendliche Treffpunkt in ihrem Revier. Das liegt eingekeilt zwischen Autobahn, Bundesstraße, Industrieanlage — ein Gelände, isoliert wie eine Insel. Schmale, eingeschossige Reihenhäuschen wurden hier in den 70er Jahren auf die Wiese gesetzt mit Veranda, Vorgarten, Jägerzaun. Nett eigentlich. Sozialschwache Familien sollten in kleinbürgerlichem Umfeld den Sprung zurück ins Erwerbsleben schaffen. Funktioniert hat das nicht. Viele Vorgärten sind verwildert, unter manchen Vordächern hat sich Gerümpel gesammelt. Einzige Zierde an vielen Häusern sind die Deutschlandfahnen. Die Bewohner nennen diese Gegend "Siedlung". Ohne Zusatz. "Wir sind hier nicht so kreativ", sagt Marcello, schaut ernst, dann prustet er los. Er lacht gern als Erster.

Am Rande der Siedlung liegt ein Jugendtreff, die "Offene Tür", getragen vom Sozialdienst katholischer Frauen. Marcello und seine Freunde gehen jeden Tag dorthin, die "OT" ist ein fester Punkt auf ihrer Route am Nachmittag. Fast ein Zuhause. Es gibt dort eine geräumige Küche, eine Sofaecke, zwei Computer. Und es gibt Anke (36), Sozialarbeiterin, die fragt, wie es in der Schule war, die Mittagessen anbietet und Getränke ausgibt. Und wenn einer der Jugendlichen die Colaflasche mit dem Feuerzeug öffnet und dabei Splitter in das Getränk fallen, sagt Anke, dass es keine neue Flasche gibt. Der Junge wird sofort wütend, seine Wangen färben sich flammend rot. Anke kennt das, sie weiß, dass sie im Leben der meisten Jungs die Einzige ist, die auf Regeln beharrt.

Über das Verhalten der Jugendlichen regt sie sich nicht auf. Frustrierend ist für sie zu sehen, wie aus intelligenten Kindern Hartz-IV-Empfänger werden. Weil sich daheim niemand um Hausaufgaben kümmert. Oder darum, dass die Jugendlichen überhaupt in die Schule gehen.

Anke entscheidet auch, ob an diesem Tag der Tanzraum geöffnet wird. Marcello bekommt den Schlüssel, verbindet den mp3-Player seines Freundes Ibo mit der Anlage. Dreht auf. Hip-Hop-Beats krachen in den Saal. Marcello wippt mit, federt auf der Stelle, dann fährt der Rhythmus in seinen Körper. Er tanzt. Mit eckigen Bewegungen wie ein Roboter, dann elastisch wie ein Gummimännchen, dann versucht er ein paar Sprünge. Ibo (13) kommt dazu, sie tanzen synchron. Gut sieht das aus. Professionell.

Aber jetzt haben sie keine Lust mehr. Jetzt erst mal Tischtennis. Die Musik lärmt weiter. Die Jungs klappen die Platte auf, machen Aufschläge wie die Weltmeister. Doch die meisten Rückbälle gehen ins Aus. Ein Spiel ergibt sich nicht. Lieber noch mal tanzen.

Marcello besucht die Hauptschule. Abgangsklasse. Er fehlt oft, hat schlechte Noten. "Ist natürlich nicht so gut, weil ich eine Lehre machen will", sagt er. Aber sein Vater werde ihm eine Stelle verschaffen. Sport- und Fitnesskaufmann will Marcello werden. "Mein Vater hat Beziehungen. Sonst hätte ich keine Chance."

Die Jungen lieben es herumzualbern. Sie hören sich gern lachen. Sie schaffen sich die Anlässe dazu. Manchmal ziehen sie durch die Viertel der Reichen und machen Klingelmännchen. In ihrer Siedlung haben sie auch schon Eier vor Fensterscheiben geworfen. Und wenn sie an einem bestimmten Haus vorbeilaufen, pfeifen sie. Dann öffnet oben ein Mann das Fenster und schimpft herunter. Er ist ein Dealer, die Jungen kennen das Signal seiner Kunden.

Manchmal gehen sie auch am Rande der Siedlung auf den Abenteuerspielplatz, Abi sagen sie kurz. Sie haben dort eine selbstgebaute Holzbude mit Ofen, Musikanlage, einem alten Teppich. Die Bude ist grünweiß gestrichen. "Die Farben der Polizei", sagt Marcello und lacht. Er ist gerade zu 20 Sozialstunden verdonnert worden. Wegen Diebstahls. Die Stunden will er auf dem Abenteuerspielplatz abarbeiten. Eigentlich finden Marcello und seine Freunde den Abi aber nicht mehr cool. "Sind doch Kinderkram, diese Buden", sagt Deniz (15) und reißt einen Zweig aus dem Busch neben der Bude. Er fängt jetzt an, die anderen mit dem Ast zu triezen. Es beginnt ein wüstes Fangenspiel. Als ein Mitarbeiter des Abi die Jungen zurechtweist, verlassen sie das Gelände.

Es ist nun Zeit für die Straße. Die Dämmerung setzt ein, die Jungen ziehen zum anderen Ende der Siedlung. Zwei Mädchen tauchen auf. Die eine ist Marcellos Freundin. Die Jungs haben jetzt Publikum. Sie rangeln herum, reißen in den Vorgärten Zweige ab, schlagen sich damit, setzen zu Nachlaufsprints an, zerren an ihren Jacken, verbiegen ihre Arme, tun einander weh.

Plötzlich hat einer den Mädchen Tampons aus der Tasche geklaut. Die zünden sie nun an, schleudern die brennenden Wattebäusche die Straße hinunter. Eine Frau kommt vorbei mit Einkaufswägelchen. Als die jungen Leute ihr keinen Platz machen, keift sie los. Die Jungen pöbeln zurück. Die Frau verschwindet laut schimpfend in ihrem Vorgarten, ohne sich noch einmal umzudrehen.

In der OT dürfen die Jugendlichen manchmal boxen. Mit Handschuhen und Kopfschutz. Das finden sie cool. Es gibt auch einen Fitnessraum mit Boxsack und Laufband. Ausdauer haben die Jungen nicht. Sie wechseln von Gerät zu Gerät. So steckt die Energie noch in ihnen, wenn sie auf die Straße gehen. Und die Langeweile beginnt.

Marcellos Eltern haben sich getrennt. Er lebt zusammen mit seinem Bruder bei der Mutter. Der Bruder ist 18 und wird bald Vater. "Er hält sich jetzt für den Herrn im Haus", sagt Marcello, "darum haben wir natürlich oft Stress." Die Älteren aus der Siedlung treffen sich abends an einer Treppe. "Manche von denen haben schon richtig viel auf dem Kerbholz", sagt Marcello, "ein Jahr Knast und so." Bei ihm soll es nicht so weit kommen, meint er. Doch fragt man ihn, was er sagen würde, hätte er drei Wünsche frei, fällt ihm lange nichts ein. "Noch drei Wünsche", sagt er schließlich. "Und natürlich Geld."

Das würde Marcello seiner Familie geben. Natürlich. Familie, das sei wichtig in der Siedlung, sagt er, aber es gehe dabei nicht so sehr um Liebe, mehr um Ehre. Darum ist es Tabu, sich beim Rangeln als "Hurensohn" zu beschimpfen. Das gibt Ärger. "Missgeburt" ist okay.

Wenn sie genug haben vom Herumschubsen am Straßenrand, fahren die Jungen manchmal zu Jugendzentren in anderen Stadtteilen. Schauen, "was da abgeht". Samstags treffen sie sich an einer Eissporthalle zur Schlittschuh-Disco. Hauptsache sie sind zusammen. Auch morgen wieder. Vielleicht gibt es ja dann etwas zu erleben.

(RP)
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