Auschwitz-Prozess KZ-Wachmann Hanning bittet um Vergebung

Detmold · Meist unbewegt hat der frühere Auschwitz-Wachmann Reinhold Hanning seinen Prozess bislang verfolgt. Der 94-Jährige ist der 170.000-fachen Mordbeihilfe angeklagt. Erstmals äußert er sich nun zu der Zeit und entgegen aller Erwartungen entschuldigt er sich bei den Opfern und Angehörigen "in aller Form".

 Reinhold Hanning wird in einem Rollstuhl in den Gerichtssaal gebracht.

Reinhold Hanning wird in einem Rollstuhl in den Gerichtssaal gebracht.

Foto: dpa, bt lof

Der toxikologische Gutachter erklärt die Wirkung von Zyklon B sachlich: Die Wirksamkeit der Blausäure ist abhängig von Temperatur und Feuchtigkeitsgehalt im Raum, riecht nach Bittermandel und ist leichter als Luft. Welche Dosis bei Menschen tödlich ist, hängt von der Verfassung des Opfers ab.

 Leon Schwarzbaum hat das KZ Auschwitz überlebt.

Leon Schwarzbaum hat das KZ Auschwitz überlebt.

Foto: ap

Was das für die Opfer konkret bedeutet habe, will die Vorsitzende Richterin im Auschwitz-Prozess gegen den ehemaligen KZ-Wächter Reinhold Hanning wissen. Es bedeute: Die Häftlinge müssen in der Dusche erst den Geruch bemerkt haben, ein Brennen in den Augen, dann Übelkeit bis zum Erbrechen, bekamen Krämpfe und Atemnot, bis sie langsam das Bewusstsein verloren. Da das Gas von unten ausströmte, mussten Eltern ihre kleinen Kinder zuerst sterben sehen. Die Leichen sollen aus Nase und Mund geblutet haben und von den Todeskämpfen teils so ineinander verkeilt gewesen sein, dass man ihnen die Knochen habe brechen müssen, um sie zu trennen.

Anklage in 170.000 Fällen

Vergasung war nur ein Mittel, mit dem mehr als eine Millionen Häftlinge zwischen 1941 bis 1945 im KZ Auschwitz getötet wurden. In 170.000 Fällen von Beihilfe zu diesen Morden ist der 94-jährige Reinhold Hanning aus Lage angeklagt. Der Prozess wird seit Februar am Landgericht Detmold verhandelt. Das mediale Interesse ist groß, nicht zuletzt weil es nicht viele Prozesse dieser Art gab und geben wird. Ein anderer Wächter, der in Hanau angeklagt wurde, ist kurz vor Prozessbeginn verstorben.

Auch Hanning ist so schwach, dass ein Gutachten nur zwei Verhandlungsstunden pro Tag erlaubt. Während er am ersten Tag noch selbst hereinschritt, wird er mittlerweile mit dem Rollstuhl hereingebracht.

Weit über 90 sind auch die vielen Überlebenden aus aller Welt, die als Nebenkläger dabei sind, die ausgesagt haben in diesem Prozess, ihre ganze Geschichte erzählt haben. Nur einer hat bisher geschwiegen, regungslos, stets mit Blick zu Boden: der Angeklagte. Für diesen 13. Verhandlungstag hatten seine beiden Verteidiger angekündigt, eine Erklärung vorzulesen. Doch niemand hatte wohl damit gerechnet, wie persönlich diese sein würde und dass sich Hanning tatsächlich persönlich äußern und sogar entschuldigen wird. "Ich schäme mich", wird er am Ende sagen. Und: "Es tut mir aufrichtig leid."

Schweigen - ein ganzes Leben lang

Hanning hat sein gesamtes Leben über die Zeit in Auschwitz geschwiegen. Nicht mal seiner Ehefrau sagte er je ein Wort. Die 22-seitige Erklärung entstand in vielen Gesprächen, seit die Anklageschrift vergangenen Herbst bei seinem Mandanten landete, schickt sein Anwalt Johannes Salmen vorweg. Er habe dabei nie das Gefühl gehabt, dass der etwas abblocken oder verweigern wollte. Hanning habe sich teils gut erinnern können an die 70 Jahre zurückliegenden Ereignisse.

Es folgt ein detailreicher Lebenslauf: Wie er als Sohn eines politisch wenig interessierten Arbeiters in Lage aufwuchs, er früh hart arbeitete, die Mutter starb und die neue Frau des Vaters in der NSDAP war. Wie er als Junge mit seinen Freunden der Hitler-Jugend beitrat, von der Stiefmutter zur SS gedrängt, an der Waffe ausgebildet und an die Front geschickt wurde und später wegen Verletzungen dann in den "Innendienst" nach Auschwitz.

Gesprochen wurde nicht

"Ich konnte sehen, wie Leichen transportiert wurden", heißt es im Protokoll. Er kannte den Verbrennungsgeruch, die mit Menschen vollgestopften Züge, er wusste, dass ein Großteil sofort getötet wurde. Wenn er selbst auch nicht direkt beteiligt war. Gesprochen wurde unter den Wächtern so gut wie nicht, mit Häftlingen schon gar nicht.

Hanning erinnert sich an eine Frau, die ihn todesängstlich um Hilfe anflehte, und an einen Mann, der ihn anbettelte, seiner Frau in Bielefeld einen Brief zu überbringen. Beiden half Hanning, sagt er. Hanning gab den Brief ab und zeigte der Frau einen Weg aus dem Lager. Die Frau überlebte vermutlich.

Hanning nickt immer wieder

Während der Erklärung nickt Hanning an manchen Stellen, als wolle er still bestätigen, dass alles genauso war. An keinem Verhandlungstag hat er einen Ton gesprochen, selbst seine Personalien ließ er am Eröffnungstag verlesen.

Doch dann holt Hanning einen Din A4 Zettel hervor, entfaltet ihn, und spricht: "Ich habe lange Zeit geschwiegen, ich habe mein ganzes Leben lang geschwiegen. Ich möchte Ihnen sagen, dass ich zutiefst bereue, einer verbrecherischen Organisation angehört zu haben, die für den Tod vieler Menschen, für die Zerstörung unzähliger Familien, für Elend, Qualen und Leid auf Seiten der Opfer und deren Angehörigen verantwortlich ist. Ich schäme mich dafür, dass ich das Unrecht sehend geschehen ließ und dem nichts entgegengesetzt habe. Ich entschuldige mich hiermit in aller Form für mein Verhalten."

Leon Schwarzbaum, ebenfalls 94, hat das KZ Auschwitz überlebt und am ersten Verhandlungstag als Nebenkläger ausgesagte und seine Geschichte erzählt. Er hatte Hanning zum Schluss direkt und sehr vehement gebeten, er solle sprechen. Schwarzbaum hörte die Erklärung heute im Gericht, schaute Hanning dabei ins Gesicht und sagte: "Ich akzeptiere, dass er sich entschuldigt hat."

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