Vor 70 Jahren Aufstand im Warschauer Ghetto

Düsseldorf · Am 19. April 1943 beginnen die verbliebenen Bewohner des Warschauer Ghettos den Widerstand gegen die deutschen Besatzer. 27 Tage dauern die Kämpfe. Zehntausende Juden sterben; der Rest wird in Treblinka ermordet.

Der Aufstand im Warschauer Ghetto
6 Bilder

Der Aufstand im Warschauer Ghetto

6 Bilder
Foto: dpa, sv olg lof

Die Geste ist bis heute unvergessen. Am 7. Dezember 1970 legt der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt in der polnischen Hauptstadt am "Ehrenmal der Helden des Ghettos in Warschau" einen Kranz nieder. Dann kniet er nieder und verharrt schweigend etwa eine halbe Minute. Der Kniefall, nicht langfristig geplant und selbst für Brandts Vertrauten Egon Bahr überraschend, wird sofort als Bitte um Vergebung für die Verbrechen verstanden, die Deutsche während des Zweiten Weltkrieges an Juden und anderen polnischen Staatsbürgern begingen. Heute erinnert eine Bronzetafel in der Nähe des Ehrenmals an Brandts Kniefall.

Das schwarze Ehrenmal, vor dem Brandt damals kniete, ist einem Aufstand gewidmet, mit dem polnische Juden dokumentierten, dass sie sich nicht widerstandslos dem Todesdiktat der Nationalsozialisten beugen wollten. Am 19. April 1943, heute vor 70 Jahren, begann dieser Aufstand, dessen Initiatoren wussten, dass sie keine Chance hatten, den Kampf gegen die SS zu überleben. Er dauerte bis zum 16. Mai 1943. Danach meldete SS-Brigadeführer Jürgen Stroop nach Berlin: "Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr. Gesamtzahl der erfassten und nachweislich vernichteten Juden beträgt insgesamt 56 065." Symbolisch wurde die Operation durch die Sprengung der Großen Synagoge beendet.

Auflehnung gegen Vertreibung

Ausgelöst wurde der Aufstand, weil das Warschauer Ghetto aufgelöst und seine Bewohner in das nordöstlich von Warschau gelegene Vernichtungslager Treblinka transportiert werden sollten. Dieses Lager war Ende Juli 1942 von der SS errichtet worden; bis zum August 1943 starben in seinen Gaskammern zwischen 700.000 und 1,1 Millionen Menschen. Aus Warschau waren von Ende Juli 1942 bis zu Beginn des Aufstandes schon mehrere Hunderttausend Menschen nach Treblinka transportiert worden. Die im Ghetto Verbliebenen wussten, was sie dort erwartete.

Das Warschauer Ghetto war im Sommer 1940 errichtet worden, nachdem die deutsche Wehrmacht im September 1939 Polen überrannt und damit den Zweiten Weltkrieg ausgelöst hatte. Der Judenhass war eine beherrschende Konstante in Hitlers Politik und der des Nationalsozialismus. Am 2. Oktober 1940 wurde allen jüdischen Bewohnern Warschaus befohlen, binnen sechs Wochen in ein Gebiet westlich des Warschauer Zentrums umzuziehen. Um dieses Gebiet mit rund 350.000 Bewohnern wurde eine 18 Kilometer lange, drei Meter hohe Mauer gezogen, an deren Toren SS-Männer wachten. Formell gab es eine Art Selbstverwaltung, den sogenannten Judenrat. Tatsächlich führte der aus, was ihm die SS befahl. Im ummauerten Gebiet herrschten bald Hunger und Seuchen; von Überlebenden gibt es erschütternde Berichte.

Die Errichtung des Ghettos war nur der Anfang. Nachdem die NS-Spitze sich entschieden hatte, die europäischen Juden zu vernichten, zeigte sich das auch im Warschauer Ghetto. Das Gebiet wurde immer kleiner, die Möglichkeiten, es zu verlassen, wurden immer seltener. Im August 1942 begann eine große Deportationswelle. Im April 1943 lebten offiziell noch etwa 40.000 Menschen im Ghetto; etwa 30.000 sollen sich dort illegal aufgehalten haben.

Die Juden konnten nicht warten

Als der Aufstand im Ghetto begann, hatte sich das Kriegsgeschehen gegen Deutschland gewandt. Die Schlacht um Stalingrad war verloren, die Rote Armee war auf dem Vormarsch. In Warschau planten Untergrundkämpfer, die sich der Londoner Exilregierung verbunden fühlten, einen Aufstand. Doch sie brauchten noch Zeit; ihr Kampf begann im August 1944. Die Juden im Ghetto aber konnten nicht warten. Sie waren unmittelbar vom Tod bedroht.

Sie waren, wie der Historiker Saul Friedländer schreibt, nicht überrascht, als die SS mit Hilfstruppen am 19. April ins Ghetto einmarschierte. Die Straßen waren leer. Bald kam es in drei voneinander getrennten Bereichen zu Straßenkämpfen. Die Trennung der Kampfplätze spiegelt die Tatsache, dass die Aufständischen zerstritten waren. Schon im Frühjahr 1942 war ein Versuch gescheitert, eine geeinte Widerstandgruppe zu bilden. Die wichtigste Gruppe, der ZOB, war gespalten in eine Richtung, die der Londoner Exilregierung anhing, und eine zweite, pro-sowjetische. Ferner gab es einen jüdischen Kampfbund ZZW, dessen Rolle in der späteren, von den Kommunisten beeinflussten Geschichtsschreibung "unerwähnt" blieb, so Friedländer.

Alle Gruppen waren bereit, bis zum Tod zu kämpfen. Die SS setzte rund 3000 Mann ein, zu denen — so der Hitler-Biograf Ian Kershaw — auch Angehörige der Wehrmacht gehörten. Sie setzten einen Panzer, gepanzerte Fahrzeuge, Artillerie und schwere Maschinengewehre ein. Den Aufständischen standen keine schweren Waffen, sondern nur Gewehre, Pistolen, Handgranaten und Molotow-Cocktails zur Verfügung. Die Deutschen verzeichneten 15 Tote und 88, nach anderen Quellen 90 Verletzte.

Die Kämpfe im Freien dauerten mehrere Tage, doch nach dem 28. April mussten sich die Kämpfer in unterirdische Bunker zurückziehen. "Jeder Bunker", schreibt Friedländer, "wurde zu einer kleinen Festung." Daraufhin wurden die Gebäude systematisch niedergebrannt, Flammenwerfer, Handgranaten und Tränengas trieben die verbliebenen Kämpfer und Bewohner auf die Straßen. Auf sie wartete Treblinka.

Einige gelangten durch die Kanalisation in Bezirke von Warschau, die nicht von Juden bewohnt waren. Sie beteiligten sich ein Jahr später am großen Warschauer Aufstand, für dessen Niederschlagung die Wehrmacht mehr als 60 Tage brauchte, wobei große Teile der Stadt zerstört wurden.

So weit war es im Mai 1943 noch nicht. Trotzdem hatte die aussichtslose Rebellion im Ghetto direkte Folgen. In Lemberg und Tschenstochau, später auch in Bialystok und anderen Städten bewaffneten sich jüdische Jugendliche. Auch in Treblinka gab es eine bewaffnete Rebellion. Sie zwang die SS, das Lager Ende 1943 aufzugeben; es wurde abgerissen. Auf dem Gelände ließ die SS zur Tarnung einen Bauernhof errichten.

(RP/felt/gre)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort