Tausende Schüler verweigern sich Arrest für Schulschwänzer?

Düsseldorf · Rund 115.000 Schüler in NRW erscheinen nur unregelmäßig zum Unterricht, die Hälfte von ihnen gilt als "Regelverweigerer". Laut Gesetz droht im Extremfall eine Arreststrafe. Doch Landesregierung und Vereine setzen auf Angebote, die Jugendlichen weit entgegenkommen.

 Unser Archivbild zeigt Jonathan (l.) und Gene. Die Jungen nahmen an dem bundesweiten Modellprojekt "Schulverweigerung - Die 2. Chance" teil.

Unser Archivbild zeigt Jonathan (l.) und Gene. Die Jungen nahmen an dem bundesweiten Modellprojekt "Schulverweigerung - Die 2. Chance" teil.

Foto: ddp

Es ist Schule, und alle gehen hin — nur Kevin (Name geändert) bleibt zu Hause. Der 13-jährige Düsseldorfer Hauptschüler will eigentlich schon, aber er schafft es nicht. An rund zwei von fünf Tagen schwänzt er den Unterricht. "Er sagt, er kann da nicht reingehen, weil er Angst hat vor seinen Mitschülern", erzählt seine Mutter Irina Dorfmeister (Namen geändert).

Täglich würde ihr Sohn geschlagen, getreten, gedemütigt, und die Angst davor lähme ihn, mache ihn zum Schulverweigerer. Die 43-Jährige suchte nach intensiven Gesprächen mit ihrem Sohn Hilfe bei Lehrern, beim schulpsychologischen Dienst und schließlich bei einem auf Schulverweigerer spezialisierten Verein, dem Rather Modell. Bisher ohne durchschlagenden Erfolg. Dorfmeister ist ratlos: "Manchmal weiß ich auch keinen Weg mehr."

Kevin ist nur einer von vielen Jugendlichen, die die Schule schwänzen. Unter den 2,8 Millionen Schülern in Nordrhein-Westfalen sind nach Angaben des Schulministeriums rund 115.000, die nicht immer zum Unterricht erscheinen. Etwa 58.000 davon könnten sogar als "Regelverweigerer" eingestuft werden. Etwa 230.000 Schüler empfinden nach Angaben des Ministeriums Schule "als nutzlos und versuchen, ihr zu entrinnen".

Laut Gesetz kann das unentschuldigte Fernbleiben vom Unterricht mit einer Geldbuße oder sogar in Extremfällen mit Arrest bestraft werden. So verbüßt derzeit eine 19-Jährige aus Mönchengladbach eine Woche Arrest, weil sie nicht zum Unterricht erschienen war und auch eine gegen sie verhängte Geldbuße in Höhe von 179 Euro nicht bezahlt bzw. keine 16 Arbeitsstunden geleistet hatte.

Allein im Regierungsbezirk Arnsberg, in dem die Schulen grundsätzlich angehalten sind, jedes unentschuldigte Fehlen eines Schülers zu ahnden, wurden im laufenden Jahr laut Bezirksregierung etwa 20 Arreststrafen ausgesprochen. Bei diesen "Extremfällen" sei eine deutliche Steigerung erkennbar. "Vor ein, zwei Jahren wurden noch nur ein oder zwei Arreststrafen verhängt", erklärte ein Sprecher der Bezirksregierung. In 11.000 Fällen wurden im Regierungsbezirk Arnsberg Bußgelder gefordert.

Schulschwänzer gibt es vor allem im Berufsgrundschuljahr. "Dort scheint es die größten Motivationsprobleme zu geben", meint der Bezirksregierungssprecher und warnt zugleich vor jeglicher Generalisierung im Zusammenhang mit dieser Problematik. "Jede Schulschwänzer-Geschichte ist individuell verschieden. Die Strafe kann nur ein letztes Instrument sein, einen positiven Effekt zu erreichen."

Eine Arrest-Strafe hält Bernhard Bueb, ehemaliger Leiter des Elite-Internats in Salem und Autor der pädagogischen Streitschrift "Lob der Disziplin", bei Schulschwänzern für "völlig unangemessen und falsch". Das Wegsperren eines Jugendlichen werde nie zu einer Verhaltensänderung bei ihm führen. Nach Buebs Meinung ist eine psychologische Betreuung sinnvoller. Wichtig sei stets, die Ursache der Schulunwilligkeit zu erforschen.

"Schulschwänzen ist immer ein Notsignal. Hinter jedem Fall verbirgt sich eine persönliche Geschichte, die wir uns genau anschauen müssen", meint NRW-Schulministerin Barbara Sommer. Die Landesregierung fördert deshalb nach eigenen Angaben 58 Projekte für schulmüde Jugendliche mit etwa 2,1 Millionen Euro pro Jahr. Erreicht werden dadurch jährlich etwa 4000 Jugendliche. Zum Teil werden ihnen Alternativen zu einem Schulbesuch angeboten. So sollen die Schulverweigerer im Rahmen von werkstattorientierten Angebotsformen wieder an das Leben herangeführt werden.

Ein Beispiel dafür ist das Rather Modell in Düsseldorf. Seit 14 Jahren versuchen Mitarbeiter aus Schulamt, Jugendamt und den Schulen mit dem Verein schweren Fällen von Schulverweigerern zu helfen. "Die Kunst ist es, herauszubekommen, warum jemand schwänzt", sagt Bertram Boeddinghaus, Konrekor der Martin-Luther-King-Schule, an die eines von vier Modellprojekten angebunden ist. Niedrigschwellige Angebote wie ein "Pädagogischer Mittagstisch" sollen helfen, Kontakte zu knüpfen, Vertrauen zu schaffen. "So kommt man ins Gespräch", sagt Boeddinghaus, "und erfährt oft, dass die Schule nicht das größte Problem in den betroffenen Familien ist."

Jugendarrest hält der Pädagoge für den letztmöglichen Weg, wenn nichts mehr greife. "Unter Umständen kriminalisiert man diese Kinder dadurch zusätzlich", so Boeddinghaus. Wobei er zugibt, dass es durchaus Verweigerer gibt, an die man mit keinem Hilfsangebot rankommt. Kevin will nicht zu diesen Schülern gehören. Trotz seiner immensen Fehlzeiten sind seine Noten gut. "Er will seinen Realschulabschluss machen", sagt seine Mutter. Kevin schafft es vielleicht gerade nicht in die Schule, aber die Schule, die will er schaffen.

(RP)
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