Serie "Deutsche Momente" 12 Als RTL auf Sendung ging

Düsseldorf (RP). Es war der 2. Januar 1984, 17.27 Uhr, in der Luxemburger Villa Louvigny, als "RTL Plus" geboren wurde – der Sender setzte das in einem Kreißsaal in Szene. Der anfangs unkonventionelle Spaß-Sender verflachte die TV-Landschaft. ARD und ZDF suchen bis heute nach einer Antwort auf das RTL-Programm.

25 Jahre Privatfernsehen - eine Chronik
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Düsseldorf (RP). Es war der 2. Januar 1984, 17.27 Uhr, in der Luxemburger Villa Louvigny, als "RTL Plus" geboren wurde — der Sender setzte das in einem Kreißsaal in Szene. Der anfangs unkonventionelle Spaß-Sender verflachte die TV-Landschaft. ARD und ZDF suchen bis heute nach einer Antwort auf das RTL-Programm.

Fernsehen — Anfang der 80er bedeutet das ARD, ZDF und WDR. Vielleicht noch SWR und ein paar niederländische Sender. Mehr war nicht drin. Und für mich als Heranwachsenden hatte es längst seinen Reiz verloren. Sicher, es gab Polit-Magazine, die ich mit zwölf, 13 Jahren mit gerade aufkeimendem Interesse am Weltgeschehen in einer überaus diskussionsfreudigen Familie verschlang. Aber für einen Jugendlichen, der seinen Platz in der Welt noch sucht, gab es nicht viel zu sehen — bis auf einige Satire-Magazine oder Musik-Sendungen wie "Bananas" und "Formel Eins". Dies aber änderte nichts daran, dass das Programm bieder und angestaubt wirkte, geradezu langweilig politisch korrekt. Von alten Männern mit angegrauten Schläfen gemacht. Das niederländische Fernsehen war da schon weiter und lief bei uns darum auch oft.

Dann kam der 2. Januar 1984. "Chefarzt" Rainer Holbe, der später ernsthaft Außerirdische und Geister im Fernsehen jagte, entband in einem Kreißsaal einen Fernseher — mit dem Logo von "RTL Plus". Ein neuer, unabhängiger Sender, den der damalige Postminister Christian Schwarz-Schilling mit der Initiative zur Privatisierung des Fernsehens und der Breitbandverkabelung möglich gemacht hatte.

Naja, Letzteres interessierte uns Jugendliche weniger. Vor allem, weil kaum jemand einen Kabel-Anschluss hatte. Und "RTL Plus", wie es 1984 noch hieß, interessierte sich auch nicht dafür, schien es. Damals noch mit Sitz in Luxemburg sendete es über Antenne. Und zumindest in einigen Teilen NRWs konnte man RTL durchaus empfangen. Ich gehörte zu den Glücklichen. Denn der Sender war eine Offenbarung.

Programm wie aus dem Partykeller

Das Programm wirkte wie aus dem Partykeller der Eltern entsprungen. Etwas amateurhaft und provisorisch, nicht immer perfekt, dafür spontan. Ganz anders als ARD und ZDF. Es waren Nachrichtensendungen wie "7 vor 7" mit Hans Meiser und Geert Müller-Gerbes, die uns Jugendliche an RTL banden. Nicht wegen der Inhalte, sondern weil die beiden wie Menschen wirkten: locker und nicht glatt gebügelt.

Dazu kamen billige C-Serien aus den USA wie "Sledgehammer" um einen an Clint Eastwood angelehnten, waffenvernarrten Polizisten — triefend vor schwarzem Humor. Die Serie war billig gemacht, war aber im Vergleich zum gewohnten Fernsehen revolutionär und hatte bald eine große Fangemeinde bei uns Jugendlichen. Das prägte das Bild von RTL. Und durch Eigenproduktionen wie "Alles Nichts Oder" bliebt man seinen "Fans" treu. Es war eine Talk- und Spielshow mit Hugo Egon Balder und Hella von Sinnen, die damals noch witzig waren. Die Sendung schien völlig spontan, weitgehend konzeptlos und sinnfrei zu sein — und war es vermutlich auch. Der Verlierer der Spiele bekam eine Torte ins Gesicht, was wir vor dem Fernseher mit grölendem Gelächter quittierten.

Werbespots hatte RTL damals selbst am Samstagabend anscheinend noch nicht viele. Darum spielten drei als Heinzelmännchen verkleidete Gestalten bekannte Werbespots nach und persiflierten sie dabei. Zum Schreien komisch. Das war TV-Anarchie und genau das, was anders war als beim angestaubten Fernsehen der Eltern.

RTL hatte bei uns bald Kultstatus. Auch mit Sendungen wie eine "Chance für die Liebe" mit Erika Berger. Ein seriöses Sorgentelefon, bei dem Partnerschaftsprobleme jedweder Art von Zuschauern gestellt wurden. Damals ein heiß diskutierter Tabubruch. Tatsächlich wirkte die um Ernsthaftigkeit immer wieder bemühte Erika Berger steif und unfreiwillig komisch. Wir lachten darüber — und überlegten uns, wie viele der Problem-Anrufe nur inszeniert waren.

Wir ahnten nicht, dass es ein Vorbote dessen war, was noch kommen würde. Wir waren nur froh, dass es einen Sender gab, der oft ungewollt ganz und gar anders war und sich nicht an Konventionen hielt. RTL war ein Spiegelbild unseres Lebensgefühls als Heranwachsende — oder zumindest von dem, was wir dafür hielten.

Einnahmen aus der Werbung stiegen schnell an

Der Sender hatte Erfolg, zog 1988 nach Köln. So erreichte man über Antenne mehr Zuschauer. Vor allem aber verdiente RTL langsam Geld. Konnte man 1984 nur zehn Millionen D-Mark Werbe-Einnahmen verbuchen, waren es 1987 bereits 60 Millionen. 1990 nahm man fast 900 Millionen D-Mark über Werbung ein. RTL schrieb fette schwarze Zahlen. Das Provisorische wich Schritt für Schritt dem Professionellen. Und der Tabubruch wurde kommerzialisiert und zur Methode: Nach einer "Chance für die Liebe" wurde man wagemutiger. Am 21. Januar 1990 startete "Tutti Frutti". Vollmundig als Stripshow gepriesen, bei der jeder mitmachen konnte. Die Sittenwächter waren — mal wieder — schon vor der ersten Sendung entsetzt.

Tatsächlich war sie eher harmlos und völlig unerotisch. Gewöhnliche Menschen, die wirklich niemand nackt sehen wollte, zogen sich unbeholfen im Fernsehen aus. Umringt von den "süßen Früchtchen": echten "exotischen Tänzerinnen" mit scheinbar eingemeißeltem Lächeln, die so kalt wie die Sendung wirkten. Dazu ein Hugo Egon Balder, der wie einst Erika Berger um Ernsthaftigkeit bemüht war und gleichzeitig locker wirken wollte. Das konnte auf Dauer nicht gutgehen. Ging es auch nicht. Es wirkte nicht einmal frech, sondern nur noch peinlich.

Damit aber wurde der Grundstein für ein Erfolgsrezept gelegt, das über Nachmittags-Talkshows zu den heutigen Casting-Sendungen wie "Deutschland sucht . . ." und den Doku-Soap- oder "Scripted Reality"-Formaten von heute führt: Dokumentation und Gespieltes vermischen sich so sehr, dass sich nicht mehr unterscheiden lässt, was Wahrheit, was Fiktion ist.

Statt die Wirklichkeit abzubilden, entwirft man eine irgendwie unterhaltsame Variante von ihr: das Leben, wie es sein könnte. Mit Betroffenen quasi als Laiendarsteller, die einen offensichtlich weit verbreiteten Voyeurismus bedienen — und in Kauf nehmen, dass über sie gelacht wird. Nicht mit ihnen.

Aber RTL hatte Erfolg. Mit Folgen für das öffentlich-rechtliche Programm. Denn das konterte, indem man versuchte, die Privaten noch zu überholen. RTL und mit ihm SAT1, Pro7 wurden auf einmal zum Markenstein für Unterhaltung und Fernsehen. Auf von RTL produzierte Seifenopern wie "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" reagierten ARD und ZDF mit eigenen TV-"Seifenblasen" oder den dramatischeren Telenovelas und Spielshows.

Mittlerweile füllen sie einen Großteil des Vormittags- und Vorabendprogramms. Einst hochgelobte Politmagazine wie "Monitor", "Report" oder "Kontraste" dagegen wurden in ihrer Sendezeit beschnitten und auf undankbare Programmplätze abgeschoben. Schließlich konnten ARD und ZDF in Spartensendern wie Phoenix das Schwere, Politische unterbringen. Wo da der Programmauftrag blieb? Selbst der Informationsdirektor der ProSiebenSat1 Media AG, Peter Limbourg, kritisierte Ende vergangenen Jahres die allgemeine Verflachung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.

Als RTL auf Ansager verzichtete, taten es auch ARD und ZDF. Das Fernsehen wurde unpersönlicher, maschineller, industriell gefertigter. Vor allem wagten die Öffentlich-Rechtlichen keine innovativen Formate mehr, sondern setzten auf Talkshows oder Moderatoren, die sich bei den Privaten bewährt hatten. RTL dagegen probierte immer wieder neue Formate aus. Besser gesagt: RTL probierte im deutschen Fernsehen neue Formate aus, die sich im Ausland schon bewährt hatten. Die niederländische Produktionsfirma für Show-Importe Endemol mit Frontfrau und Schwester eines der Firmengründer, Linda de Mol, waren nur den Anfang. Es folgten selbst produzierte Fernsehfilme, schlechte Kopien von US-Serien oder Vorführungen von B- und C-Promis im Dschungelcamp.

Revolutionär und anarchistisch

In dem Sinne hat sich RTL tatsächlich als revolutionär, geradezu anarchistisch erwiesen. Nicht so, wie wir jugendliche Zuschauer 1984 gedacht und dabei gelacht haben. Nein, anarchistisch in dem Sinne, dass man die alten Regeln außer Kraft setzte und ersetzte — durch nichts. Auf einmal scheint alles möglich. Auch dass im "Dschungelcamp" ein Kandidat mit Stromstößen gefoltert wird, wenn ein anderer versagt.

Wo da die Menschenwürde bleibt? Helmut Thoma, von 1984 bis Ende Oktober 1998 Geschäftsführer von RTL, prägte 1990 in einem Spiegel-Interview den Satz: "Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler."

Verklausuliert nahm er auf diese Weise zynisch Abstand von manchen der eigenen Fernsehformate. Verklausuliert sagte er damit auch, dass man im Prinzip fast alles tun würde, solange die Quote und damit die Werbeeinnahmen stimmen würden. Irgendwie scheint in dieser Auffassung aber tatsächlich ein Erfolgsrezept zu liegen. 1993 startete der Privatsender VOX mit dem Spruch: "Die einen bleiben dumm, die anderen schalten um." Intellektuell anspruchsvoll wollte man sein — und hielt das kaum ein Jahr durch, bevor man sich an RTL und Co. angeglichen hatte.

(RP)
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