Archiv-Einsturz in Köln vor einem Jahr Als ich alles verlor

Köln (RP). 46 Jahre lang lebte Margarete Groenewald (78) in der Severinstraße 232. Der Einsturz des Kölner Stadtarchivs machte sie obdachlos. Wie geht es der alten Dame heute? Was denkt sie über den Pfusch beim U-Bahn-Bau? Ortstermin in der Kölner Südstadt.

 Margarete Groenewald (78) an der Unglücksstelle. Sie trägt ein Album mit

Margarete Groenewald (78) an der Unglücksstelle. Sie trägt ein Album mit

Foto: RP/Uwe Miserius

Margarete Groenewald steht an der Baugrube in der Kölner Severinstraße. "Da hat Haus Nummer 232 gestanden", sagt die alte Dame und zeigt mit dem Finger ins Leere. Bis zum vergangenen Jahr. Am 3. März 2009, um 13.58 Uhr, stürzte das benachbarte Kölner Stadtarchiv zusammen. Eine Katastrophe, die bis heute für neue Skandalnachrichten sorgt. Zwei Menschen starben damals in den Trümmern. "Das waren Nachbarjungs", sagt Margarete Groenewald.

Margarete Groenewald ist eine gläubige Frau. Im Wohnzimmer ihrer neuen Wohnung, die ganz in der Nähe der Severinstraße liegt, hängt eine geschnitzte Madonna an der Wand, die sie aus ihrer alten Wohnung retten konnte. Im Wohnzimmerregal steht eine Ansichtskarte mit einem Sinnspruch. "Ich weiß nicht, wohin Gott mich führt, aber ich weiß, dass er mich führt", steht darauf.

Vor einem Jahr, als das Unglück geschah, war die 78-Jährige bei einem Vortrag der Gemeinschaft katholischer Berufstätiger Frauen. Als sie nach Hause kam, blickte sie auf ein Ruinenfeld. Margarete Groenewald erinnert sich an den Zweiten Weltkrieg, den sie als Kind in Köln erlebt hat. "Damals war man bei jedem Luftangriff darauf vorbereitet, alles zu verlieren", berichtet die ehemalige Sekretärin. "Der Archiveinsturz kam ohne Vorwarnung. Viele Menschen haben von einer Sekunde auf die andere ihr ganzes Hab und Gut verloren."

Glück im Unglück

Die alte Dame hat Glück im Unglück. Das Wohnhaus muss zwar abgerissen werden, aber vor dem Abbruch des schwer beschädigten Gebäudes können Helfer die wichtigsten Habseligkeiten bergen. Ihre Wohnung liegt im Hochparterre und ist leichter zugänglich als die Räumlichkeiten im akut einsturzgefährdeten Obergeschoss. Die alte Spieluhr, ein Geschenk das Vaters, wird ebenso aus dem Haus gerettet wie alte Familienbilder.

Das Wohnungsamt der Stadt bringt die Seniorin nach dem Unglück zunächst im Hotel Mercure an der Severinstraße unter. Insgesamt sind mehr als 160 Menschen von dem Einsturz unmittelbar betroffen. Viele sind schwer traumatisiert, wissen nicht, wie das Leben weitergehen soll. Der Selbstmord ihrer langjährigen Nachbarin, die sich in ihrem Hotelzimmer das Leben nimmt, schockiert Margarete Groenewald. Aber es gibt auch gute Nachrichten für die Betroffenen.

In der Sortierstelle, in der die geborgenen Archivalien untersucht werden, tauchen immer wieder persönliche Gegenstände auf. "Wir haben mehrfach Fundsachenausstellungen organisiert", berichtet Gesa Bokranz vom städtischen Wohnungsamt. Schmerzlich vermisste Tagebücher, Kinderfotos, Fotochipkarten, Wanderschuhe und ein Autoschlüssel fanden so den Weg zurück zu den Besitzern. "Auch schwer beschädigte Gegenstände haben für die Betroffenen oft einen unschätzbaren Erinnerungswert", sagt Bokranz.

Millionenentschädigung durch die KVB

Die meisten Betroffenen wollen auch nach dem Unglück in der Kölner Südstadt wohnen bleiben. Viele haben an der Severinstraße sehr preisgünstig zur Miete gewohnt, es ist schwer, einen adäquaten Ersatz zu finden. Die KVB zahlt im Regelfall rund 1000 Euro Abfindung pro Quadratmeter. "Bislang konnten 72 Prozent der Schadensfälle reguliert werden", sagt KVB-Sprecherin Gudrun Meyer. Die Verkehrsbetriebe zahlten insgesamt 4,4 Millionen Euro an die Opfer aus. Auch die Familien von Kevin K. (17) und Khalil G. (24), die in den Trümmern starben, erhielten eine Entschädigung.

Margarete Groenewald vermisst ihre alte Wohnung. Ihre neue Unterkunft ist 20 Quadratmeter kleiner, die neu gekauften Bücher stehen in einem schlichten Ikea-Regal. Die Abfindung, die sie von den Kölner Verkehrsbetrieben bekommen habe, reiche aus, um über die Runden zu kommen, sagt die alte Dame. "Wie ich bin, ist unermesslich wichtiger als das, was ich habe", lautet ihr Credo.

Ein Jahr nach dem Unglück sind die Ermittlungen der Kölner Staatsanwaltschaft immer noch im Anfangsstadium. Bislang ist klar, dass an den U-Bahn-Baugruben in der Stadt zum Teil nur 17 Prozent stabilisierende Eisenbügel verbaut wurden. Wer ist schuld an der Katastrophe? Die Bauarbeiter, die tragende Eisenteile als Schrott verhökert haben? Die Ingenieure, die den Pfusch nicht bemerkt oder sogar gefördert haben? Oder die Politik, die es zuließ, dass die Sicherheit der Baustelle nicht unter strenger staatlicher Kontrolle stand?

Margarete Groenewald lässt die Schuldfrage offen. Die tragischen Ereignisse ließen sich nun leider nicht mehr rückgängig machen, sagt die 78-Jährige nachdenklich. Die Kölnerin vertraut darauf, dass die Schuldigen früher oder später zur Verantwortung gezogen werden: "Wenn nicht vor Gericht, dann vor Gott."

(RP)
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