Serie "Deutsche Momente 2" Als endlich die Waffen schwiegen

Düsseldorf (RP). Auf einmal verstummten die Sirenen: Am 17. April war der Zweite Weltkrieg zumindest in Düsseldorf vorbei. Doch damit kamen neue Probleme. Für viele gab es kein Dach mehr über dem Kopf, Krankheiten brachen aus, die Menschen hungerten. Aber es gab auch den ersten Funken Hoffnung auf eine bessere Zeit.

 Ein großer Moment der deutschen Geschichte war das Ende des 2. Weltkriegs.

Ein großer Moment der deutschen Geschichte war das Ende des 2. Weltkriegs.

Foto: AP, AP

Das Klirren der Ketten höre ich heute noch. Langsam kamen die Panzer die große Straße hinunter. Ich — fünf Jahre alt — stand auf dem Balkon in Düsseldorf, als meine Mutter ein Bettlaken über der Brüstung ausbreitete. Da waren die amerikanischen Soldaten schon im Haus. Vor der Haustür, an einer Straßenecke, hatten deutsche Soldaten oder Volkssturmmänner ihre Waffen auf einen Haufen geworfen und waren geflüchtet. Die Amerikaner fanden im Haus keine Waffen, nur eine Arztpraxis.

Ein US-Offizier, so erzählte meine Mutter später, stellte fest, dass sein Vater und mein Großvater — der im Alter von mehr als siebzig Jahren täglich seinen Beruf als Arzt ausübte — zusammen studiert hatten. Die Amerikaner zogen ab, für uns war der Zweite Weltkrieg vorbei. Kein Geheul der Sirenen mehr, keine Flucht in den Keller, kein Beschuss mehr durch Artillerie, keine Tiefflieger. Aber ein Leben lang Erinnerungen: an leuchtende Punkte, die nachts summend über den Eifelwald zogen, Raketen waren und V2 hießen. An Tiefflieger. An eine gespenstische Nacht-Reise im Februar 1945 mit einem Truppentransport von der Eifel über Bonn nach Düsseldorf. Es goss, und immer wieder hielten die Wagen. Man kroch unter sie, lag im Matsch, um vor Beschuss sicher zu sein. Die Enge im Keller und die Angst, wenn es rummste. Kleine Erinnerungen im Vergleich zu dem, was Opfer des Rassenwahns, Soldaten, Flüchtlinge auf den großen Trecks im Osten erlebten. Kleine, aber haltbare Erinnerungen.

Das Kriegsende in Sicht

Düsseldorf war am 17. April 1945 die letzte Stadt des sogenannten Ruhrkessels, die von den Amerikanern besetzt wurde. Hatten die Truppen der Alliierten zum Jahresbeginn - bis auf Aachen - noch nicht die Grenzen des Deutschen Reichs erreicht, so war zwei Monate später nach furchtbaren Kämpfen im Osten wie im Westen, die noch einmal Hunderttausende das Leben kosteten, das Ende des Kriegs in Sicht.

Im Osten hatte die Rote Armee Pommern und Schlesien erreicht, im Westen standen Amerikaner, Briten und Kanadier am Rhein. Weite Teile des linksrheinischen Niederrheins waren komplett zerstört, die nationalsozialistische Propaganda aber faselte immer noch vom möglichen Endsieg. Als die Amerikaner Anfang März den Westen von Düsseldorf besetzt hatten, wurden die Rheinbrücken gesprengt. NS-Gauleiter Karl Friedrich Florian tönte: "Am Rhein pflanzen wir die Fahne des Widerstands auf."

So dauerte es noch sechs Wochen, ehe das industrielle Kerngebiet Deutschlands kapitulierte. Sechs Wochen mit täglichen Bombenangriffen, Artilleriebeschuss und Tieffliegern, die auf alles schossen, was sich bewegte. In einer großen Zangenbewegung umschlossen die Alliierten das Ruhrgebiet. Sie kamen von Süden, wo sie bei Remagen und Bonn über den Rhein gingen. Sie kamen von Norden, wo sie bei Wesel den Rheinübergang erzwangen. Am 31. März trafen sich die US-Verbände bei Lippstadt, die deutsche Heeresgruppe B war im Ruhrkessel eingeschlossen. Zwei Wochen später war nur noch ein kleines Gebiet um Wuppertal, Solingen und das rechtsrheinische Düsseldorf in deutscher Hand. Drei Tage später war auch dort die Herrschaft der Nationalsozialisten beendet.

Nicht ohne ein letztes Blutvergießen. Noch in der Nacht zum 17. April wurden einige Männer von einem Exekutionskommando hingerichtet, die Düsseldorf kampflos übergeben wollten. Zwei andere Mitglieder dieser Gruppe aber erreichten die US-Truppen. Als die Amerikaner einrückten, saßen der Rechtsanwalt Karl August Wiedenhofen und der Architekt Aloys Odenthal vorne auf den ersten Panzern. Wären Schüsse gefallen, wären sie sofort erschossen worden. Doch Düsseldorf empfing die Sieger mit weißen Fahnen oder auch Betttüchern.

Hier war der Krieg zu Ende, anderswo noch nicht. Berlin war noch nicht eingekreist, Hamburg und München noch unter der Kontrolle der NSDAP. Noch lebte Hitler und feierte am 20. April Geburtstag. Riesige Flüchtlingsströme kamen von Osten — es wurden noch viel mehr.

Noch hielten sich an der französischen Atlantikküste einige deutsche Festungsbesatzungen, so in La Rochelle. Noch war Norwegen unter deutscher Kontrolle. In Norditalien standen deutsche Truppen. Selbst nach Hitlers Tod am 30. April, auch nach der deutschen Kapitulation am 7. und 8. Mai 1945 gab es noch eine Reichsregierung — in Flensburg. Ihr Chef, von Hitler per Testament eingesetzt, war Großadmiral Dönitz. Er sprach mit den Alliierten über Versorgung und Transportfragen. Am 23. Mai wurden er und die letzten Reichsminister verhaftet, die Sieger USA, Großbritannien, Sowjetunion und Frankreich übernahmen auch formal die Macht in Deutschland.

Die Lage war unübersichtlich. Man wusste nichts von nahen Angehörigen. Millionen deutscher Soldaten waren in Kriegsgefangenschaft, das Schicksal vieler anderer war unbekannt. Was war mit den Männern, den Vätern? Wegen des Bombenkriegs waren Millionen von Stadtbewohnern in kleine Landstädte oder Dörfer in wenig industrialisierten Gebieten verschickt worden. Lebten sie noch?

Rückkehr nach dem Ende der Kämpfe

Viele kehrten nach dem Ende der Kämpfe in die Städte zurück. Dort aber waren viele Wohnungen zerstört. Düsseldorf hatte 40 bis 42 Prozent seines Wohnungsbestandes verloren. Ausgebombten, Flüchtlingen, Heimkehrern wurde von den Stadtverwaltungen, die die westlichen Sieger im Amt ließen, Wohnraum zugewiesen, oft auch in feuchten und schmutzigen Bunkern. In den Häusern wurde es eng. Aber wie heißt es so schön? Platz ist in der kleinsten Hütte. Drei Mädchen suchten einen Platz zum Spielen. Sie fanden ihn jeden Tag unter dem Küchentisch.

Zerstört waren nicht nur Wohnhäuser und Fabriken, zerstört waren auch die Kanalisationen. Folge: "Die primitivsten Regeln der Hygiene konnten nicht mehr beachtet werden", heißt es in einem 1950 erstellten Verwaltungsbericht der Stadt Düsseldorf über das Jahr 1945. Krankheiten wie Tuberkulose, Typhus oder die Ruhr breiteten sich aus. Dazu kamen am Jahresende Diphtherie und Scharlach. Die erwischten auch mich. Aber Großvater hatte aus Amerika das damals in Deutschland noch nicht erhältliche Penicillin bekommen. Ich überlebte.

Schlimmer als die Enge, die Ungewissheit, der Dreck war der Hunger. Lebensmittel waren schon seit Kriegsbeginn rationiert worden. Im Lauf des Jahres 1945 wurden sie äußerst knapp, weil durch die Kämpfe die Ernte gering ausgefallen war. 1000 Kalorien standen einem sogenannten Normalverbraucher täglich zu. Was 1000 Kalorien sind, zeigte 1946 eine Ausstellung: drei Scheiben Brot, eine dünn mit Butter, eine dünn mit Marmelade bestrichen. Dazu eine Kartoffel, der siebte Teil eines Herings, eine dünne Wurstscheibe und eine Tasse Suppe. Nicht immer gab es Brot oder Kartoffeln. Manchmal nur schwer bekömmliches Maismehl.

Hungern — Hamstern — Horten

Was half? Hamstern! Franz Specks, Wirtschaftsredakteur der RP, schilderte 1986 wie das ging. Man fuhr — wenn möglich — zu verwandten oder bekannten Bauern auf dem Land. Die halfen mit Obst oder Speck. Schwierig war, das vom linken auf das rechte Rheinufer zu bringen. Die Rheinbrücken waren zerstört. Die Briten, die seit Mitte Juni 1945 die Rheinprovinz besetzten, hatten Behelfsbrücken eingerichtet. Vor denen kontrollierten Posten die Ankommenden und nahmen ihnen die Lebensmittel ab, die der allgemeinen "Bewirtschaftung" zugeführt wurden.

Also kam es darauf an, einen Teil der gehamsterten Lebensmittel so in Skihosen und Jacken zu verstecken, dass die Kontrolleure sie nicht fanden. Auch wir hatten Verwandte auf dem Land, die — ohne Gegenleistung — halfen. Einmal schenkten sie einem Onkel einen Sack Getreide. Der ließ ihn sich von den Engländern allerdings abnehmen.

Hamstern half nicht immer. Die meisten Menschen hungerten. Die Folge: Im harten Winter 1945/46, dem ein ebenso harter Winter 1946/47 folgte, breiteten sich Hungerödeme aus. Im Herbst 1946 waren mehr als 13 000 Menschen im Regierungsbezirk Düsseldorf daran erkrankt.

In den zerstörten Städten bildeten sich Banden. Millionen ausländischer Kriegsgefangener und Zivilpersonen hatten als Zwangsarbeiter die deutsche Kriegswirtschaft aufrecht erhalten. Ihre Lager wurden nach dem Ende der Kämpfe nicht mehr kontrolliert, aber oft auch nicht richtig versorgt. Aus Not, aber auch aus Rache, bewaffneten sich etliche und raubten, was sie brauchten. Die deutsche Polizei war machtlos, sie hatte ihre Waffen abliefern müssen.

Keine Hoffnung also 1945? Doch. Aus den Ländern der Sieger kam Hilfe. Auch kleine Gruppen von Deutschen verbreiteten Hoffnung. Noch im ersten Halbjahr gab es in vielen großen Städten Konzerte. Die Kultur regte sich. Aber auch die Politik. Nicht alle Deutschen hatten Hitler in den Zeiten des Triumphs zugejubelt. Etliche hatten die Nazizeit teils als Verfolgte, teils aus bewusster Distanz erlebt. Mühten sich nach dem Ende des Krieges die meisten Menschen mit dem Kampf ums tägliche Brot ab, formulierten sie — durchaus unterschiedliche — politische Ziele.

Viele Kommunisten aktivierten ihre Überzeugungen aus der Weimarer Zeit und setzten auf die sowjetische Besatzungsmacht im Osten. Christliche Gruppen, aber auch Gewerkschafter, fragten sich, wie viel ihre Zerstrittenheit zum Aufstieg der Nationalsozialisten beigetragen hatte. Sie schufen neue Organisationen wie die CDU oder die Einheitsgewerkschaft. Die Sozialdemokraten organisierten sich neu. So entstanden im Westen Deutschlands die Vorläufer demokratischer Organisationen. Hier wurde diskutiert, was aus der noch nahen Vergangenheit zu lernen sei, wie neue politische Verbrechen zu verhindern seien.

(RP)
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