Sprache Die Allgegenwart des „Wir“

Düsseldorf · Das „Wir“ hat gerade Konjunktur. Wer in der Öffentlichkeit etwas erreichen will, formuliert in der ersten Person Plural. Das suggeriert Gemeinschaftssinn. Dabei dient diese Strategie häufig der Abgrenzung.

 In der Gemeinschaft wird das „Wir“ gelebt, wie hier bei einem Fest in Schwalmtal (Symbolbild).

In der Gemeinschaft wird das „Wir“ gelebt, wie hier bei einem Fest in Schwalmtal (Symbolbild).

Foto: Sroka, Birgit (bigi)

Wir waren Papst. Wir haben das geschafft mit den Flüchtlingen, zumindest eine Zeit lang. Wir sind noch immer das Volk, wenn wir auch nicht mehr alle dasselbe damit meinen. Wir lieben den Wald. Wir sind die Mittelschicht und haben Angst vor dem sozialen Abstieg. Wir sind eine Fußballnation. Trotz allem. 

Das „Wir“ hat Konjunktur. Kein Tag, an dem keine Parole geboren würde, in der ein „Wir“ auftritt, das hofft oder bangt oder auf irgendetwas stolz ist. Das Personalpronomen in der ersten Person Plural klingt sympathisch und vertrauensvoll. Denn es ist kein selbstverliebtes „Ich“, kein moderner Egomane, keine dürre Einzelmeinung. Das „Wir“ steht auf breiter Basis, es umarmt, wen es will, und ist auf sprachlichem Gebiet höchst integrativ.

Darum wird Chefs empfohlen, von ihren Entscheidungen möglichst in Wir-Form zu sprechen. Politiker analysieren, fordern und mahnen in Vertretung eines Wir. Und so werden öffentliche Debatten immer seltener zwischen Meinungsgegnern ausgetragen, die es wagen, Ich zu sagen.

Stattdessen geben Sprecher vor, die Interessen einer Gruppe zu artikulieren – in der ersten Person Plural: Wir müssen mehr Europa wagen, wir brauchen mehr Pflegepersonal, wir sind empört über das Abschneiden der deutschen Mannschaft. Das Wir schafft sprachlich Zusammenhalt, es ist der grammatikalische Kitt, den eine spröder werdende Gesellschaft dankbar aufsaugt. Wie geht es uns heute? Wir werden schon wieder gesund.

Doch wer „wir“ sagt, formt nicht nur eine Gruppe, sondern grenzt sich auch von den anderen ab. Zum „wir hier“ gehört nun mal in der Regel auch das „ihr dort“. In vielen Regionen der Erde schlägt sich das auch sprachlich nieder. In etwa 40 Prozent aller gesprochenen Sprachen, vor allem im pazifischen Raum, gibt es eine Unterteilung der ersten Person Mehrzahl in ein inklusives und ein exklusives Wir. In diesen Sprachen existiert also ein Wort, das alle Anwesenden meint, und eines, das – ähnlich wie die Formulierung „wir beide“ – eine Gruppe definiert und von den anderen abgrenzt.

Das Deutsche ist da weniger deutlich. Darum kann ein „Wir“ nach Gemeinschaft klingen, aber Spaltung bezwecken. Am Ruf „Wir sind das Volk!“ ist das überdeutlich geworden. Stand der Satz doch mal für eine friedliche Revolution, für Menschen in einem geteilten Land, die wieder gemeinsam leben wollten. Doch spätestens seit den Pegida-Märschen ist Volk für manche wieder der alte Kampfbegriff, der pseudonatürlich eine Gruppe definiert, zu der einige gehören. Andere nicht. Wie friedlich ein „Wir“ gemeint ist, hängt auch von der Betonung ab.

In heute fast satirisch anmutender Form hat Schlagersänger Freddy Quinn einst die zwei Seelen des Wirs freigelegt. Mitte der 60er Jahre wollte er sich zur Imagepflege mit der bürgerlichen Mitte gegen „die Gammler“ mit den ungewaschenen Haaren verbrüdern und sang ein Lied, das er gleich „Wir“ nannte. Darin schleudert er jenen, die „in Parks und Gassen herumlungern, Kirchen beschmieren und sich zur lautstarken Meute formieren“, das Wir der Saubermänner entgegen, die ordentlich an der besseren Zukunft arbeiten. Ein schweigendes Mehrheits-Wir sollte gegen die großmäuligen Revoluzzer im Park aktiviert werden.

Inzwischen haben die Jungs mit den ungewaschenen Haaren von einst ihre Karriere als Außenminister bereits hinter sich. Der Song wirkt heute mehr betulich denn kämpferisch, wurde damals jedoch als so belehrend empfunden, dass er die Hochphase in Quinns Karriere beendete.

Wer das „Wir“ allzu triumphal anstimmt, wird der Spalterei überführt. Darum wird das Ausgrenzende heute meist dezenter versprachlicht. Etwa in der Flüchtlingsdebatte, wenn es im Masterplan der CSU heißt: „Ausreisepflichtige müssen unser Land zeitnah verlassen.“ Aus dem werbenden „Wir schaffen das“ ist ein abgrenzendes „unser Land“ geworden. In beiden Fällen werden Zuhörer vereinnahmt, werden sprachlich in eine Gruppe und zu einer Haltung gezwungen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel musste in den Monaten nach der Ankommenseuphorie erleben, wie sich das von ihr beschworene „Wir“ wütend gegen sie wandte. Wie aus Vereinnahmung Abwehr wurde. Und so ist Deutschland heute wieder etwas, das „uns“ gehört. Die Auflehnung dagegen bleibt aus. Wer will schon freiwillig nicht dazugehören, schon auf dem Schulhof war das unangenehm.

Die „Wir“-Tümelei ist ein rhetorischer Kniff

Die „Wir“-Tümelei, aus welcher politischen Richtung auch immer, ist ein rhetorischer Kniff, um Widerspruch gar nicht erst aufkommen zu lassen. Wer antritt mit einem „Wir“ im Rücken, hat sich schon eine Mehrheit verschafft und steht argumentativ nicht allein da. Das „Wir“ ist ein prima Versteck.

Natürlich kann man auch bescheiden hinter dem „Wir“ zurücktreten, kann aufrichtig betonen, dass man etwas nicht allein zustande gebracht hat, sondern im Kollektiv. Nicht jedes „Wir“ ist vorgeschoben und die Freude an Aktionen in Gemeinschaft, an neuen Wirs, die sich bewähren, wird ja gerade wieder neu belebt.

Genauso allerdings kann man sich mit einem „Wir“ so groß machen wie ein König, der von sich selbst im Plural spricht: Im „Wir“ können also der Pluralis Modestiae wie der Pluralis Majestatis, Bescheidenheit wie Größenwahn liegen. In jedem Fall zeigt die gesteigerte Verwendung des Personalpronomens ein gesteigertes Bedürfnis, rhetorisch über andere zu verfügen.

Das ist das Unangenehme an der Inflation des „Wirs“. Die Angesprochenen haben ja meist ein Feingefühl dafür, ob sich da wahrhaftiger Gemeinschaftssinn artikuliert oder ob er nur herbeigeredet, übergestülpt, ausgenutzt werden soll. Ein echtes „Wir“ kann viel bewegen. Davon wird dann ganz von selbst die Rede sein.

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