Aktuelle Umfrage Zahl der einsamen alten Menschen hat sich verdoppelt

Berlin · Wenig überraschend hat sich die Zahl der einsamen Über-80-Jährigen laut einer neuen Umfrage während der Corona-Pandemie verdoppelt. Das geht aus einer vom Bundesfamilienministerium veröffentlichten Studie hervor.

 Ein Senior stützt seine Hände auf Krücken ab (Symbolbild).

Ein Senior stützt seine Hände auf Krücken ab (Symbolbild).

Foto: dpa/Klaus-Dietmar Gabbert

Einsamkeit nimmt laut Umfrage in der späten Lebensphase zu: 22 Prozent der Personen im Alter über 90 Jahren, aber nur 8,7 Prozent der Personen im Alter von 80 bis 84 Jahren beschreiben sich als einsam. Frauen sind mehr als doppelt so häufig betroffen wie Männer. Der Anteil Einsamer in Heimen beträgt 35 Prozent, während er in Privathaushalten bei 9,5 Prozent liegt.

Auch andere Altersstufen sind betroffen: Junge Erwachsene fühlten sich heute etwas einsamer als vor 40 Jahren, ergab eine im Dezember veröffentlichte Studie der Uni Bochum. Corona hat das nochmal verstärkt: "Manche Studentinnen und Studenten sind nun im dritten Semester, haben aber noch nie eine Uni betreten", sagt der Leiter der Bremer Telefonseelsorge, der evangelische Theologe Peter Brockmann. Das Sozialleben junger Leute sei während der Pandemie erheblich eingeschränkt worden.

Die Entwicklung reicht über Deutschland hinaus. Während der Pandemie habe sich die Häufigkeit von Einsamkeitsgefühlen unter EU-Bürgern verdoppelt, ergab eine Umfrage vom Herbst. Hatten 2016 noch 12 Prozent angegeben, sich mehr als die Hälfte der Zeit einsam zu fühlen, so stieg dieser Anteil während der Pandemie auf 25 Prozent.

Angesichts solcher Zahlen forderte der Sozialverband Deutschland (SoVD) einen nationalen Einsamkeitsgipfel. "Die Politik darf nicht weiter zuschauen, wie weite Teile der Bevölkerung durch Corona vereinsamen", erklärte SoVD-Präsident Adolf Bauer. Bundesseniorenministerin Anne Spiegel (Grüne) kündigte an, eine "Strategie gegen Einsamkeit" zu erarbeiten. Außerdem wolle die Regierungskoalition Verantwortungsgemeinschaften fördern, die auch Lebensmodelle im höheren Alter umfassen.

Einsamkeitsgefühle können so schlimm sein wie heftige Schmerzen, weiß der Ulmer Hirnforscher Manfred Spitzer. Dass das Thema zunehmend auf der politischen Bühne ankommt, zeigt auch die CDU-Politikerin Diana Kinnert (30) in ihrem 2021 erschienenen Buch "Die neue Einsamkeit". Das Gemeinwesen splittere sich zusehends auf, der Mensch werde "zu einem abgenabelten Argonauten, der in seiner Raumkapsel durch die Meerströme der Moderne irrt", schreibt sie.

Viele Faktoren begünstigen Einsamkeit. In den vergangenen 20 Jahren hätten sich die Menschen zunehmend digital vernetzt, sagt die Gründerin der Nachbarschaftsplattform nebenan.de, Ina Remmers. Dies führe auch dazu, dass man sich trotz "scheinbar unendlicher Möglichkeiten" häufig nur in Gruppen Gleichgesinnter austausche.

Auch die Bindekräfte lassen nach: zum Geburts- oder Wohnort, zu Parteien, Vereinen oder Kirche. Vereinzelung sei nicht nur ein persönliches Problem, sondern eine kollektive Erfahrung, schreibt Martin Hecht im Buch "Die Einsamkeit des modernen Menschen". "Sie ist die Folge der modernen Lebensart, der globalen Entwurzelung und Heimatlosigkeit."

Gibt es Rezepte dagegen? Franz Müntefering, bis vor kurzem Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen, sieht jeden selber gefordert: Das Alter sei kein Grund, im Schaukelstuhl zu versinken, macht der frühere Vizekanzler Mut. Sich in Vereinen oder Nachbarschaften zu engagieren, sei die beste Medizin gegen Vereinsamung. Auch Spitzer rät: "Ein Ehrenamt ist besser als Aspirin."

Müntefering, Kinnert und Brockmann sehen aber auch die Politik gefordert. Ein zentraler Problemlöser seien die Kommunen, sagt der frühere SPD-Chef. Seniorenbeiräte, Mehrgenerationenhäuser und angemessene Quartiersentwicklung könnten dafür sorgen, dass alte Menschen Kontakt behielten.

Auch Brockmann verweist auf Strukturen: Wer im Schichtdienst arbeite, habe es schwer, sich in Vereins- oder Gemeindestrukturen einzubringen, wer in einem Dorf ohne öffentlichen Nahverkehr wohne, müsse mehr investieren, um sich zu engagieren. Kinnert fordert mehr Raum für die Entfaltung von Gemeinschaft - etwa mehr Grünflächen, Plätze und Orte für Begegnungen.

(felt/kna)
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