Deutschlandreise

778 Kilometer Deutschland

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Geschrieben und fotografiert von Henning Rasche

Die Bundesstraße eins verbindet seit Ewigkeiten deutsche Dörfer und Städte. Hält die Menschen noch etwas anderes zusammen? Auf Durchreise im deutschen Herbst 2018.

Fünfzig Meter bis zum Puff, steht in Rot auf der Wand. Aber da ist kein Puff, da ist Deutschland. Dieses Land beginnt plötzlich, aber trostlos. Es ist ein Montag Ende Oktober, Herbst. Dunkle, kalte Wolken hängen oben, unten grauer Asphalt. 778 Kilometer grauer Asphalt.

Donnerstagmorgen in Brandenburg: eine Bushaltestelle im Nebel.
Die Bundesrepublik beginnt in Aachen eher unvermittelt. “50 Meter bis zum Puff” steht an der Wand.
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            <h2 class="counters counter1">Aachen-Düsseldorf</h2> 
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An den Bäumen im Aachener Vaalserquartier leuchten die Blätter weinrot. Sie werden richtig dunkel, bevor sie verblassen und sich fallen lassen. Die Menschen tragen Handschuhe und Schals, als könnte es nicht kälter werden. Dabei sind es sieben Grad. Unter den Füßen raschelt das Laub, die Eicheln zerbrechen.

Zwei Bundesadler versinken an der deutsch-niederländischen Grenze in Blumen.

Der Motor des silbernen Kombis ist nicht ganz warm, da läutet eine Frau in Berlin den Herbst ein. Ihre Blätter sind hellgelb, kurz vor dem Fall. Deswegen tritt sie nach achtzehn Jahren zurück. “Was heut’ noch glüht, ist bald versunken”, schreibt Hermann Hesse. Die Buslinie 35 fährt in die Entengasse, die Fußgänger gehen weiter.

Ein Schild weist in Aachen auf den Start der B1 hin.

Es ist kompliziert. Der Nationalismus ist zurück, die Gesellschaft gespalten, die Republik nervös. Stimmt das?

Die Bundesstraße eins ist die erste Straße im Staat. Vor ihr gab es keine, schon gar keine längere. Vor mehr als 2000 Jahren wurde erstmals auf dieser Route Handel betrieben. Die längste Version der B1-Vorgänger reichte von Brügge bis Nowgorod, die berühmteste von Aachen bis Königsberg. Heute führt sie von Aachen ganz im Westen nach Küstrin ganz im Osten.

Die Bundesstraße eins verbindet Dörfer, Tankstellen, Wälder, Haltestellen und Städte. Und die Menschen? Hält sie im Herbst 2018 mehr zusammen als eine Straße?

778 Kilometer in elf Tagen. Reise nach Deutschland.

Die B1 wird immer dann schön, wenn es hügelig wird - zum Beispiel kurz vor Salzkotten. Leider ist Deutschland nicht besonders hügelig.

Durch Aachen windet sich die B1 wie ein Aal. Am Straßenrand verschwinden Kneipen und Grabsteingeschäfte. Bis Neuss kommt die Bundesstraße als Bundesautobahn daher. Vorbei an Jüchen, Garzweiler, dem Hambacher Forst, an Grevenbroich, direkt ins Industriegebiet.

Vor einem Möbelhaus steht eine Holzhütte, aus der eine Frau Bratwurst und Pommes verkaufen könnte, wenn jemand welche haben wollte. Das gibt es eigentlich nur in Freizeitparks, aber Möbelhäuser sind ja so etwas wie Freizeitparks für Spießer. Über die Josef-Kardinal-Frings-Brücke Einfahrt in die Landeshauptstadt Düsseldorf. Mit 70 km/h am Medienhafen vorbei, unter dem Stadttor durch, zum Rheinufer.

Es ist kalt und nass, an der längsten Theke der Welt ist niemand. Die Menschen sitzen in tiefen Sesseln in verqualmten Shishabars, auf knüppelharten Holzstühlen in Restaurants, die mit Sparpreisen werben, oder an engen Tischen in Hausbrauereien. Das Angebot reicht von Froschkotze bis Schweinebrötchen. Es mangelt nicht an Publikum, aber an einer Theke.

Der Gang zur Toilette kostet einen Euro. Jedenfalls für Nicht-Gäste.

Im Innern sitzen Pärchen und solche, die es werden wollen. Frauen, die sich enganliegend kleiden, Männer, die sich die Haare gegelt haben. Manche reden, andere schweigen. Hin und wieder schlürft ein Strohhalm. Etwas abseits trinken Bohemiens Weißwein, dazu gibt es Quiche mit Salat.

Düsseldorf-Bochum

Auf der Königsallee sitzt ein Obdachloser. Es ist kurz nach elf am Dienstagmorgen, nicht wärmer als am Vortag. Der Mann wippt mit dem Oberkörper vor und zurück. Auf „Guten Morgen“ reagiert er mit offenen Augen, aber verschlossenem Mund. Er konzentriert sich auf sein Business. Kundschaft in Winterblousons wirft zwei Euro in seinen Pappbecher.

Die Buchhandlung Müller & Böhm, Bolkerstraße. Im Hinterhaus wurde 1797 Heinrich Heine geboren, die gleichnamige U-Bahn-Haltestelle um die Ecke dient Jugendlichen als Treffpunkt. In der Nachbarschaft gibt‘s Schnaps aus der Kloschüssel.

Mathias Meis ist Buchhändler, trägt Schnurrbart, Wollmütze, einen grauen Pullover über dem Hemd und Hornbrille. Er soll ein paar Sätze über den Zustand der Gesellschaft sagen. Meis, 33, spricht geschliffen. Er wisse den materiellen und kulturellen Wohlstand in Deutschland zu schätzen, definiere sich aber nicht über seine Staatsbürgerschaft. Meis sagt: „Mir macht das Sorgen, dass die AfD mit 25 oder 30 Prozent das macht, was der Salvini in Italien macht, die Demokratie abschafft, einen autoritären Führer installiert.“ Meis, das verrät Google, sitzt für die Grünen im Stadtrat.

Zwischen Düsseldorf und Breitscheid führt die B1 über die A52 zu Europas längster Caravan-Meile. Auf drei Kilometern grenzt in Mülheim an der Ruhr ein Wohnmobilhändler an den anderen. Sie verkaufen Lebensgefühle, Freiheit und Männlichkeit. Und den Baron S590, einen Grill für 1399 Euro.

Kai Dhonau, 48, Schalketasse im Regal, versteht etwas von seinem Geschäft. Seinem Gast rät er, ein Wohnmobil für seine Deutschlandreise zu nutzen, dann müsse nicht jeden Abend ein Hotel her. Camping, sagt er, ist klassenfrei. Freiheit, Unabhängigkeit, Natur, deswegen fahren die Deutschen so auf Caravan ab, erzählt Dhonau, der Wohnmobilhändler.

Im Radio läuft Westernhagen. Wieder hier, in meinem Revier.

In Mülheim-Heimaterde steht das älteste Einkaufszentrum Deutschlands, das Rhein-Ruhr-Zentrum.

Im EG sitzen Rentner bei Tchibo, trinken Kaffee für 1,35 Euro und gucken schweigend durch die Glasscheibe. Die Männer, die auf Bänken hocken, warten. Auf die Frau, auf bessere Zeiten oder dass der Tag vorübergeht. Es könnte Freitag sein oder Dienstag, elf oder 23 Uhr. Es gibt kein Tageslicht. Auf einem Plakat trägt ein junger Mann eine Bratwurst. Draußen regnet es.

Das Rhein-Ruhr-Zentrum in Mülheim-Heimaterde ist das älteste Einkaufszentrum Deutschlands. Rentner trinken Kaffee vor einem kleinen Indoor-Teich.

Ab jetzt ordnet sich die B1 der berühmtesten Straße des Ruhrgebiets unter, der A40. Als der Pott 2010 Kulturhauptstadt Europas war, wurden Brücken entlang der A40 mit Sprüchen ausgestattet. Seitdem kann man im Stau „Ich bin eine von wir“ lesen, oder „Ich komm aus wir“.

Feierabend in Bochum-Wattenscheid, Nieselregen. Der Metzger wirbt mit dem Spruch: „Der beste Fisch ist immer noch der Schnitzel.” Am Holzkohlegrill ein paar Meter weiter gibt es keinen Fisch, aber Currywurst für Zweisiebzig.

Zwei Schichtarbeitern tropft der Regen in die Wurst. Sie essen schneller. Sagt der eine: „Flüchtlinge, Flüchtlinge, Flüchtlinge. Man hört nix mehr sonst. Und wir rackern uns den Arsch ab.“ Sagt der andere nach einer Pause: „Uns hilft keiner.“

Kurzes Schweigen, Schmatzen. Der UPS-Fahrer bestellt wie immer, die Frau aus der Pizzeria nimmt zwei Currywürste mit. Die beiden Männer kommen auf ihre Kontakte mit dem Jobcenter zu sprechen. Laufen ganz gut, die Maßnahmen. „Schalker, ich wünsch dir was.“ Tschau. Eine Taube pickt matschige Pommes vom Boden.

Ein Asiate im Bermudadreieck, Bochumer Ausgehviertel, der Assistenzarzt redet sich in Rage.

„Da stellt sich eine Familie in der Notaufnahme vor, der Junge hat starke Bauchschmerzen. Die kommen nicht von hier, können kaum Deutsch. Wir kümmern uns um den Jungen, behandeln ihn. Als wir drei Stunden später auf dem Zimmer nach ihm sehen wollen, hockt die ganze Familie bei ihm. Die haben Pizza bestellt, für den Jungen mit Bauchschmerzen auch. Ganz ehrlich, die spinnen doch.“

Das Gesundheitssystem will sparen, immer, sagt der anonyme Arzt. Auf der Intensivstation gebe es Schichtdienste, weil man sich dort übermüdete Ärzte nicht leisten kann. Dort, wo der junge Assistenzarzt arbeitet, gibt es keinen Schichtdienst, aber übermüdete Ärzte.

Bochum-Soest

Westfalenhallen, Dortmund. Die B1 führt zum Hauptfriedhof, Am Gottesacker 25, auf dem Sandra Großpietsch, 44, wartet und sagt: „Ich arbeite sehr gerne mit Menschen.”

Gärtnermeisterin Großpietsch ist auf dem Dortmunder Hauptfriedhof zuständig für die Vergabe der Gräber. Sie zählt nicht auf, was es alles gibt sie zeigt es mit einem Elektromobil. 118 Hektar sind zu weit zum Laufen. Der Friedhof ist bunt, beinahe vital. Auf einigen Grabstätten klebt das Logo des BVB.

Sandra Großpietsch, Gärtnermeisterin auf dem Friedhof Dortmund.

Großpietsch, Drei-Fragezeichen-Fan, fährt links, zweimal rechts, und erzählt von Erdwahlgrab, Erdreihengrab, Urnenwahlgrab, Haingrab, Baumgrab, Urnennische, Urnenreihengrab und Aschestreufeld. Raus aus dem Wagen, kurze Erklärung, weiter geht’s.

“Die Gesellschaft verändert sich, also verändert sich auch die Friedhofskultur”, sagt Sandra Großpietsch. “Dass gemeinsam eine Grabstelle gepflegt wird, gibt es kaum noch.” Deswegen bieten sie acht Grabarten pflegefrei an; die Angehörigen müssen sich um nichts kümmern. Die Friedhofsgärtner jäten das Unkraut, pflücken das Laub, mähen den Rasen.

Inzwischen entscheidet sich ein Großteil der Angehörigen für ein pflegefreies Grab, erzählt sie. “Man hat keine Verpflichtung, aber immer eine Anlaufstelle.” Sie sagt das wie ein Bäcker, der New York Cheesecake statt Frankfurter Kranz verkaufen muss.

Ein paar Kilometer zurück, im Radio singt Rea Garvey „Kiss me like you want me“. Westfalenstadion. Der BVB spielt am Abend, es ist Halloween, im Pokal gegen Union Berlin. Auf dem Weg zum Stadion kommen fünf Mädchen aus einem Fitnessstudio. Die eine sorgt sich, ob ein Junge sie süß findet. Die anderen vertreten unterschiedliche Auffassungen.

Ein Pärchen knutscht zu jedem Ballkontakt: BVB gegen Union Berlin.

Block 78, Reihe 41, Platz 14. Der Stadionsprecher erzählt von einem jungen, sehr talentierten Spieler, Jahrgang 2000, Jaden irgendwas. Männer tragen Jacken, auf die Vereinsnamen gedruckt sind, etwa der SV Sorgensen, und Bierstiegen, auf denen “Herrenhandtasche XL” steht. Das Pärchen in Reihe 38 knutscht zur Hymne und später zu jedem Ballkontakt. Nach 16 Spielminuten beginnen sie im Stadion, rhythmisch zu klatschen. Beim Stand von 2:1 für Dortmund in der 85. Spielminute verlässt der Reporter das Stadion. Draußen angekommen, fällt das 2:2, Verlängerung.

Ein Hotel an einer Soester Einfallstraße. An einem Tisch sitzen sieben verkleidete Gestalten. Die Rezeptionistin hat ein Spinnennetz auf dem Kopf. Einer blonden Frau, einen Riesenkrug Pils und Mettbrötchen vor sich, läuft Kunstblut aus den Mundwinkeln. Man hat sich nicht allzu viel zu erzählen, die Schlagermusik übertönt die Stille.

Soest am Feiertag: Beton auf Beton

Soest - Horn-Bad Meinberg

Das Café am Markt heißt jetzt Landbäckerei Sommer. Statt Kännchen Filterkaffee gibt es „Kaffeespezialitäten mit Flavour”. Das Gourmet-Frühstück für 8,75 Euro enthält laut Tischaufsteller 1 Fritzchen, 1 Körnerbrötchen, 1 Croissant, 2 Scheiben Salami, 2 Scheiben rohen Schinken, 1 Scheibe Gouda, 1 kleine Portion Rührei, Butter, 1 kleinen Joghurt, Frischkäse, 1 Glas O-Saft, Kaffee, Kakao oder Tee, abzuholen an der Theke. Die Frage, ob es das auch vegetarisch gibt, führt beinahe zur Entlassung einer Bedienung.

Deutschland hat geschlossen: ein Kiosk in der Altstadt von Soest.

In der Landbäckerei sind wenige Tische frei, an den meisten sitzt eine Person. Ein Mann erzählt einer Frau am Nachbartisch: „Soest ist wie Kevelaer.” Sie beißt in ihr Käsebrötchen. Am Rand rutscht eine Scheibe Ei heraus.

Zwischen Werl und Erwitte, mittendrin Soest, ist die Bundesstraße 1 nur noch Landstraße, weil die Autobahn parallel verläuft. Das Navi spricht weiter von B1.

Ein Stück zurück nach Werl. Landwirt Marcus Brinkmann, 35, bittet zur Mitfahrt im Geländewagen. Es geht raus aufs Land. Brinkmann muss sich, anders als der Wagen, nicht warmlaufen. In ihm brodelt es.

Vor fünf Jahren haben sie den Bioladen vom Biohof Struwe ausgegliedert, es wurde ein bisschen groß. Seither kann Brinkmann vom Laden aus den Aldi sehen. Es kam regelmäßig eine junge Mutter zu ihm, die für ihr Kind eine Karotte, eine Pastinake und drei Kartoffeln gekauft hat. Für ihren Mann und sich fuhr sie im Anschluss zu Aldi und kaufte den Rest.

Marcus Brinkmann (34) betreibt den Biohof Struwe.

“Sehen Sie? Alles Neuwagen.” Brinkmann zeigt auf die entgegenkommenden Autos. Er versteht es einfach nicht. Die Menschen geben für alles Geld aus, kaufen sich die teuersten Autos, die Bio-Nahrung fürs Kind, aber bei den eigenen Lebensmitteln wird gespart. “Das ist doch krank”, sagt Marcus Brinkmann. “Die Leute kaufen sich einen Grill für 2000 Euro und legen dann Hähnchenschnitzel für 1,99 Euro drauf. Krank.”

Am Rande zweier Felder redet Brinkmann im Auto weiter. Im Bioladen fragen Kunden schon mal, ob sie beim Fleisch die Folie vor dem Braten abmachen müssen oder wie sie die Kartoffeln kochen. “Die Leute werden verarscht, und sie lassen sich verarschen”, sagt er. Wer für 1,99 Euro Fertiglasagne kaufe, dürfe sich nicht wundern, dass da Müll drin sei.

Bauer Brinkmann spielt sich selbst die Bälle zu. Er ist bei der Verrohung der Gesellschaft angekommen. Höflichkeitsformen seien völlig verloren gegangen. “Das ist erschreckend im Land der Dichter und Denker”, sagt Brinkmann.

Hinter Erwitte wieder B1.

Allerheiligen, 15.30 Uhr, Bad Lippspringe, Zeit für Kaffeekuchen. Das Café am Markt: Kunsttulpen in Keramikmännchen, Berge von roten Äpfeln, Teelichter in bunten Plastikbechern, Spitzendeckchen. Hölzerne Kronleuchter, ein Maibaum, Spitzengardinen, Teppichboden. Die Zuckertütchen der Sparkasse Paderborn-Detmold liegen in Strohkörbchen.

Kunsttulpen, Spitzendecken, Teelichter: das Café am Markt.

Ein Paar, Ü50, betritt das Café. “Ich kann nicht mehr über Politik reden”, sagt die Frau. Schnell sind die beiden sich einig, dass sie der “politischen Klasse” nicht mehr vertrauen. “Alle trachten nur noch ihrem eigenen Nutzen hinterher”, sagt der Mann. “Ich bin pessimistisch”, die Frau. Er: “Wir sind Google und Facebook hilflos ausgliefert.” Sie: “Die Jungs zocken, die Mädels takeln sich für Instagram auf.”

Draußen vor dem Café am Markt sitzt eine ältere Frau, die ein Stück Kuchen nach dem anderen futtert, Apfelkuchen mit Streuseln, viel Sahne. In der rechten Hand hält sie die Kuchengabel, in der linken eine Zigarette. Sie kaut und raucht abwechselnd.

In Bad Lippspringe steht ein Sessel am Straßenrand.

Am Rande des Teutoburger Waldes, Kreis Lippe, das Staatsbad Horn-Bad Meinberg, gut 17.000 Einwohner. Die Gaststätte „Kajüte“ ist eins von zwei Lokalen, die am Donnerstagabend geöffnet haben.

Auf der Eckbank sitzen drei Frauen, Blickrichtung Theke, und spielen ein Würfelspiel. Die eine sagt: “Jetzt ne 14, und ich kann schlafen gehen.” Ist aber ne Elf.

Die Kellnerin erzählt, dass sie nach der Arbeit nicht mehr allein nach Hause geht. Ihr Freund holt sie ab, früher ist sie spaziert. “Die Zeiten sind vorbei”, sagt sie. Deswegen fehlt ihr jetzt ein bisschen Bewegung. “Es gibt immer so ne und so ne.”

Horn-Bad Meinberg-Hildesheim

Meik Bockelkamp, 45, arbeitet im Dachgeschoss an seinem Laptop und freut sich am Freitagmorgen über ein bisschen Ablenkung. Er leitet das Haus Sankt Elisabeth, ein Pflege- und Demenzzentrum in Bad Meinberg. Die Menschen hier sind recht alt, eher über 70.

Das “Brunnen-Café Förster” in Horn-Bad Meinberg.

Im Haus Sankt Elisabeth gibt es Wohngruppen für Demenzpatienten, Plätze in der Palliativpflege sowie in der Kurzzeit- und Verhinderungspflege. „Für die meisten hier ist der Lebensmittelpunkt ihr Zimmer”, sagt Meik Bockelkamp.

Vereinsamung sei das größte Problem, findet er. In ländlichen Bereichen kämen noch finanzielle Schwierigkeiten hinzu. „Ein Maurer, der 40 Jahre geknüppelt hat, kommt mit kaputten Knochen bei 1000 Euro Rente raus und soll schon mal fürs Altersheim sparen”, sagt Bockelkamp.

Hinter Bad Meinberg säumen bunte Birken die B1. Die Bundesstraße ist immer dann schön, wenn es hügelig wird. Deutschland ist nur nicht besonders hügelig.

Paderborn an Allerheiligen: Auf der Bank sitzt bloß eine leere Bierflasche.

In Sonneborn verläuft die Grenze zwischen Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Ein kleines Örtchen mit Bürgerhaus und einer Gaststätte namens „Bürgerhaus“. Beides hat geschlossen. Eine Deutschlandflagge weht.

Groß Berkel. Ausweislich eines Steins hat sich die EU an der Umgestaltung des zentralen Dorfplatzes beteiligt. Hier gilt das deutsche Grundgesetz: in der Mitte die Kirche. Eine Bürgerbewegung protestiert auf Plakaten: „Ortsumgehung jetzt”.

Viel Wald, viel Dorf. Im Radio singt Rea Garvey wieder vom Küssen.

Einfahrt nach Hameln. Der Mc Donald’s an der B1 verfügt über Ausweichparkplätze. Im Erdgeschoss der Stadt-Galerie sitzen am Freitagmittag, 13.35 Uhr, Schüler, manche haben noch den Tornister auf dem Rücken, und stopfen sich Burger mit Pommes rein. Hoch die Hände, Wochenende.

Helmstedt: Ein Deutschlandfan bekennt sich.

Bei der Bäckerei „Landbrot“ sitzen die Senioren, bei „Thai Curry“ die Jungen, und bei „Fresh Fruits“ niemand. Die Eisdiele macht den Umsatz ihres Lebens. Banana Split und Cappuccino sind der kleinste gemeinsame Nenner der Republik.

Elze, Landkreis Hildesheim, 8800 Einwohner, Fachwerkhäuser, Jungfernstieg, die Straßenlaternen werden nachts abgeschaltet. Das Heimatmuseum hat am Freitagnachmittag geschlossen. Genau wie der Integrations-Treffpunkt. Oder die Wählergemeinschaft UWE, die Generationenhilfe, das Rathaus und die öffentlichen Toiletten.

Der Gasthof “Zur Mühle” in Reesen hinter dem Jägerzaun hat Ruhetag.

In der Ferne weist ein Schild auf eine Konditorei hin. Sie ist ein Dönerladen, vor der Tür verkaufen Männer Bratwurst. Deutschland ist kein besonders zufälliges Land, aber manchmal überrascht es doch.

Eine als Zucchini verkleidete junge Frau sitzt am Abend mit ihrem neuen Freund in einem griechischen Schnellimbiss in Hildesheim. Die beiden unterhalten sich über Vergewaltigungen.

Sie: “Wenn ein Hund ein Kind beißt, wird er eingeschläfert.”

Er: “Ja gut, aber…”

Sie: “Doch, warum sollte man Vergewaltiger von Kindern nicht auch töten?”

Ein Dritter kommt hinzu, sie geht zur Toilette.

Er: “Wir diskutieren gerade über die Todesstrafe.”

Der Dritte: “Das interessiert mich nicht.”

Er: “Mir ist sowieso alles scheißegal, um ehrlich zu sein.”

Briefkästen, Telefonzellen, ein Wegweiser. Paderborn.

Hinterm Hauptbahnhof geht’s weiter. In einer hellen Bar sind vier Tische belegt, an einem wird lautstark über Rassismus diskutiert. Tenor: krasser Scheiß. An der Theke sitzen zwei Männer und trinken Pils. Der eine fummelt auf seinem Handy rum, der andere starrt an die Wand.

Eine Etage höher, U-100-Party, Motto: “Schüttel dein Heck”, 0.40 Uhr. Ein Mann mit geschlossenen Augen, Bernd-Stromberg-Frisur und Nordic-Walking-Schuhen macht laszive Bewegungen zu “Schüttel deinen Speck”. Auf der Theke stehen Salzstangen in Wassergläsern, auf dem Laptop des DJs klebt eine Birne.

Der Mann, der unten an der Bar saß und an die Wand gestarrt hat, etwa 35, sinkt nach etlichen Minuten Tanzen auf ein Sofa. Er nippt an seinem Bier, presst die Lippen zusammen, und nichts passiert.

Hildesheim-Helmstedt

Weiter Richtung Braunschweig. Samstag, neun Grad, Sonnenschein, die Windräder stehen still, die Menschen gehen in Funktionsjacken spazieren. Das Örtchen Steinbrück ist so klein, dass man durchgefahren ist, bevor man es ausgesprochen hat.

Groß Lafferde, kurz nach eins am Samstag. Der Bäcker, der Kfz-Meisterbetrieb, der Elektriker, alles hat geschlossen. Auch der Gasthof „Grüner Jäger“.

Mittags beim Baumarkt in Braunschweig. Die Regale reichen bis unter die Decke, Maschendraht, Waffenschränke und Revisionstüren. Es gibt Gießkannen in Pink, Schwarz, Blau, Hellgrün, Dunkelgrün und Gelb. 62 verschiedene Sorten Blumenerde. Zehn unterschiedliche Schneefräsen stehen bereit sowie Schlitten und Brennholz, als wäre das nicht Braunschweig, sondern schon Nowgorod.

Ein Trabi in den Tiefen Niedersachsens, in Groß Berkel.

Vor dem Schraubenregal lässt sich ein junger Mann via Handy beschreiben, wie die gesuchte Schraube aussieht. Es ist aussichtslos, er bekommt ein Foto. Die Grills kosten keine 2000, sondern 1500 Euro.

Samstagnachmittag, Einkaufszone Braunschweig. Die Volksbank wirbt mit dem Vergleich: “Halbes Hähnchen - ganze Beratung”. Vor Primark wartet eine Mutter mit ihren Teenie-Töchtern. Gemeinsam essen sie belegte Brötchen von der Back-Factory, direkt aus der Tüte. Eine Frau, vier braune Tüten in der Hand, stürmt mit den Worten „Ich hab‘ Frühschicht“ heraus.

Im Innern riecht es nach Plastik. Die Turnschuhe gibt’s für zwei Euro, das T-Shirt auch, Unterwäsche für drei Euro, und eine Jacke aus der aktuellen “Trend-Kollektion” für Herren kostet 35 Euro. An den Wänden hängt Werbung für Nachhaltigkeit.

Groß Berkel, Niedersachsen, Landkreis Hameln-Pyrmont: Auf 16 Quadratkilometer kommen 3196 Einwohner. Eine Bürgerbewegung protestiert: “Ortsumgehung jetzt”.

Hinter Braunschweig ist es dunkel. Es ist 17 Uhr, die Landschaft nur noch in Umrissen zu erkennen. In Helmstedt, letzte Stadt in Niedersachsen, wird es nicht heller.

Samstagabend. In den Einfamilienhäusern hinterm Jägerzaun brennt warmes Licht, der Fernseher zuckt in der Stube. Aus der Kneipe „Bäreneck” dröhnt Schlagermusik, Helene Fischer. An der Theke sitzen, na klar, drei Bären, die sich nichts zu sagen haben, das aber lautstark.

An einer Tankstelle kaufen zwei Mittdreißigerinnen, stark geschminkt, knappe Höschen, zwei Dosen Energydrinks, in der Hand halten sie eine Flasche Berliner Luft. Sie gehen weiter zum Bahnhof und fahren dorthin, wo es was zu feiern gibt: Braunschweig.

Helmstedt-Magdeburg

Es ist 8.15 Uhr am Sonntag. An der Hotelbar sitzen zwei Männer in Sweatjacken, vor sich ein Köstrizer. Sie grüßen knapp. Das Seniorenpaar im Frückstücksraum geht nacheinander zum Buffet, um den Tisch nicht freizugeben. Als beide sitzen, schlürfen sie Filterkaffee, beißen ins Körnerbrot mit Käse. Plötzlich sagt er in das kauende Schweigen hinein: „Aber das Tomtom hat uns gestern gut geführt.” Sie, leise: „Ja.” Pause. „Das ist wahr.”

Pfarrerin Fröhlich redet erstmal über den Tod. Es ist November. St.-Thomas-Kirche, Baujahr 1963. Betonwände, dunkle Fliesen, Bänke aus schwarzem Leder. Hinter dem Altar ein abstraktes Gemälde.

Sabrina Fröhlich, 34, Pfarrerin in Helmstedt.

15 Besucher, inklusive Lektoren und Konfirmanden, die ohnehin kommen müssen. Fast jeder sitzt in einer eigenen Reihe. Wie in der Regionalbahn. Die Gemeinde singt Lied 428, Strophe 2, “Erhaltung der Schöpfung”:

“Komm in unser reiches Land, / der du Arme liebst und Schwache, / dass von Geiz und Unverstand / unser Menschenherz erwache. / Schaff aus unserm Überfluss / Rettung dem, der hungern muss.”

Die Predigt wimmelt von Werbebotschaften, die so einprägsam sind, dass man sie nicht mehr vergisst. „Ich bin doch nicht blöd.“ Pfarrerin Sabrina Fröhlich, 34, krauses kurzes Haar, hat auch einen Werbespruch gefunden, er stand auf der Rückseite eines Lkw: „In Jesus Christus liegen verborgen alle Schätze dieser Welt.” Ein Foto davon steckte in jedem Gesangbuch.

Fröhlich spricht, als hätte man sie aus einer anderen Welt hierher übertragen. Sie sagt Sätze wie: „Wie toll ist das denn bitte” oder “Youtuben Sie das mal”. Und, bei den Fürbitten: „Wir bitten dich um gute Regierungen auf der ganzen Welt, die den Frieden lieben.” Hell, yes.

Ein paar Autominuten von der Kirche entfernt, in Sabrina Fröhlichs Küche, von der man nicht schreiben soll, dass sie unaufgeräumt ist. Also, Frau Fröhlich, warum kommen nur 15 Leute in Ihren Gottesdienst, obwohl er so liberal ist?

„Der Kirche”, sagt sie, „fehlt zwischen Hochzeit und Beerdigung ein bisschen das Angebot.” Die Menschen blieben in der Kirche, weil sie heiraten wollen, weil sie beerdigt werden wollen, aber dazwischen sei ihnen nicht klar, was die Kirche zu bieten habe. Vorher gibt es Angebote für Kinder und Jugendliche, später für Senioren. „Wir waren mal das einzige Angebot, heute warten an jeder Ecke Sinnstiftungsangebote”, sagt sie. Der Sinn sei inzwischen die Familie selbst, Quality Time, Urlaub, Freunde, Beruf.

Keine Garage, sondern ein Bäcker. In Genthin ist abends nicht viel los.

Seit Sommer 2017 ist Sabrina Fröhlich Pfarrerin in Helmstedt, davor war sie zum Vikariat in Bahrdorf und zum Studium in Marburg und Berlin. Fröhlich hat angefangen, Theologie zu studieren, weil sie Antworten auf die großen Fragen des Lebens haben wollte. Und, siehe da, der christliche Glaube gab ihr Antworten.

Fragt man sie nach dem Zustand der Gesellschaft, dann sagt die Pfarrerin: „Die größte Sorge der Leute ist Einsamkeit.” Damit meint sie nicht nur alte Leute, die keinen Anschluss mehr haben, sondern auch junge. Erst letztens sei ein Konfirmand gekommen, der ihr erzählt habe, dass er gemobbt werde. Er war ziemlich einsam.

„Es sind fehlende Beziehungen, freundschaftlich, nachbarschaftlich, aber auch fehlende Liebesbeziehungen”, sagt Sabrina Fröhlich. Darüber spreche ihre Gemeinde viel. „Die Bürger sagen, es ist nichts los, aber es macht ja auch keiner was los.”

Wenn sie an Deutschland denkt, spricht sie über die Lauten, die keine mutigen Wege in die Zukunft gehen wollten. Denen liberale Antworten, die der deutsche Staat oft gibt, suspekt sind. Und davon, dass Rechts keine Antwort auf Probleme sei. „Woher?”, fragt Sabrina Fröhlich, die Pfarrerin, die mit dem Tod angefangen hat, “Woher haben die Rechten den Mut, ausgerechnet in Deutschland so laut zu sein?”

Die Grenze zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt verwischt. Ein Schild erklärt: „Hier waren Deutschland und Europa bis zum 18. November 1989, 8.30 Uhr, geteilt.“

Hinter Morsleben heißt die B1 „Straße der Romanik”. Zwei gegenüberliegende Bäume heben ihre Äste so über die Straße, als gäben sie sich die Hand.

Sonntagnachmittag, acht Grad. Der SSV Blau-Weiß Eichenbarleben-Ochtmersleben empfängt in der 2. Bördekreisklasse den TSV Niederdodeleben II. Hier könnte der Fußball nach Bockwurst schmecken, wenn sie denn schon warm wäre.

Sonntagnachmittag, 2. Bördekreisklasse: Der SSV Blau-Weiß Eichenbarleben-Ochtmersleben empfängt den TSV Niederdodeleben II.

Aus einem Fenster heraus verkauft ein Mann Getränke und, später eben, auch Würstchen, für etwa 30 Zuschauer. Ein alter Mann mit Kappe bestellt Pils und Kümmerling. Das Pils füllt der Verkäufer in einen Plastikbecher, den Rest trinkt der Mann aus der Flasche.

Die Spieler verschenken keinen Meter. Niederdodeleben fällt allerdings bei jeder Gelegenheit um und schreit wie am Spieß. “Einbuddeln und weiter”, kommentiert der Mann mit Kümmerling.

Eine Frau mit Sonnenstudio-Gesicht begrüßt einen Mann in Lederweste mit den Worten: “Na, du Muschi”. Zwei Männer diskutieren das Spiel des SC Magdeburg vom Vortag. Einer fragt: “Warum haben die den Schwatten geholt? Um die Bimbo-Quote zu erfüllen?”

In der Pause stehen die Spieler vor der verschlossenen Kabine, niemand weiß, wer den Schlüssel hat. In der 70. Minute fällt das 1:0 für Eichenbarleben-Ochtmersleben. Wer hat das Tor geschossen? Eine junge Mutter, in der rechten Hand einen To-go-Becher, in der linken ihr Kind, recherchiert. Nummer 15 muss zur Ecke, die Luft ist raus. Kurzer Griff an die Plauze.

Den Ausgleich zehn Minuten später bekommt kaum jemand mit, es ist spät geworden. “Nachher noch Mathehausaufgaben”, sagt die To-Go-Mutter. “Sind hier lauter Sinti auf dem Platz?”, ruft einer. Die Leute sticheln, schwätzen, trinken, lachen. Fußball, 2. Bördekreisklasse, ist zufällig der Treffpunkt.

In der Dämmerung weiter nach Magdeburg, Landeshauptstadt. Das Navigationssystem schlägt vor, auf die A2 zu wechseln. Nein, lieber B1 als A2.

Magdeburg-Genthin

In einem alten Magdeburger Industriegebäude sitzen Philipp Müller, 31, und Karmand Abdallah, 25, an Schreibtischen ihres Start-up-Lofts. Sie sollen erklären, was das ist. Es fallen die Begriffe „Inkubator” und „Company-Builder”. Müller sagt: „Wir sind eine Arbeitsbühne zur Selbstverwirklichung.” Junge Gründer sollen die Praxis kennenlernen.

Die Start-up-Gründer Karmand Abdallah (l.) und Philipp Müller aus Magdeburg.

Philipp Müller ist selbstständig, seit er 18 Jahre alt ist. Erst hat er analog Luxusautos vermietet, später stieg er auf eine digitale Vermittlung von Luxusautos um. Als Selbstständiger könne er sich am besten selbst verwirklichen, sagt Müller. Karmand Abdallah kam mit sechs aus dem Irak und studiert Wirtschaftsingenieurwesen. Sie sprechen vom „Know-how-Transfer” und vom „richtigen Mindset“.

Die Start-up-Szene in Sachsen-Anhalt ist klein, kein Vergleich zu Berlin oder Köln. Aber Magdeburg ist schwer im Kommen, versprechen Müller und Abdallah. „Magdeburg ist das neue Leipzig”, sagen sie.

Die beiden schimpfen ganz ordentlich über die Digitalpolitik und ihre Akteure. Wieso machen sie nicht Politik?

Die Kirche St. Johannis in Magdeburg, nicht der Dom.

„Ich kenne keinen Gründer, der in die Politik gehen würde”, sagt Philipp Müller. Und warum? „Wenn wir als frischer Wind da auftauchen, machen die die Fenster zu”, sagt Abdallah. „Was ist der Anreiz?”, fragt Müller. “Das wäre ja eine altruistische Motivation.”

Aus Magdeburg raus, vorbei an Feldern mit Solarzellen. Zwischen Möser und Burg blockiert ein Fahrschul-Lkw der Bundeswehr die B1. Auf dem Weg nach Genthin liegen Ortschaften, die aussehen, als stammten sie aus der Landschaft einer Modelleisenbahn.

In Reesen, zwischen Möser und Burg, hat die Freiwillige Feuerwehr ihren Sitz. Oben: eine Wohnung.

Die Stimme von Matthias Günther kennen sie sogar in Berlin. Er war da neulich im Radio, erzählt er, und habe etwas Werbung für seine Gemeinde gemacht. So viel vorab: Das kann er.

Warten auf den Bus: In Genthin, Landkreis Jerichower Land, 15.000 Einwohner, gibt es eine sehr große Haltestelle.

Günther, 48, war 20 Jahre lang Projektmanager bei Eon, ist viel durch Europa gereist. Im Frühjahr, die Bürgermeisterwahl stand bevor, hat er sich gefragt, wen er wählen könnte. Ihm ist niemand eingefallen. Deswegen ist er selbst angetreten. “Mit der Politik hatte ich eigentlich nüscht zu tun”, sagt Günther am Montagnachmittag im Rathaus. Seit Juli ist er, parteilos, Bürgermeister von Genthin.

In Genthin, etwa 15.000 Einwohner, wurde das Waschmittel Spee erfunden. Der Chemiekonzern Henkel unterhielt bis vor zehn Jahren ein Werk, dann hat das Unternehmen die Stadt verlassen. Aber Genthin kämpft.

“Genthin ist eine recht knuffige Stadt”, sagt Matthias Günther im Werbemodus. Jeder kennt jeden, sagt Günther, “was aber auch nett ist”. Die Kriminalitätsrate sei niedrig, das Leben nicht teuer, Häuser und Wohnungen seien erschwinglich. Kindergarten, Schulen, Gymnasium, alles vorhanden. Der Zug fährt bis Berlin. Und in 30 Minuten erreicht man die Hochschulen Magdeburg, Brandenburg und Stendal.

Der Zug fährt bis nach Berlin: Bahngleise in Genthin.

Was jetzt noch fehlt, sind ein paar Einwohner. Deshalb das mit dem Radio. Matthias Günter wirbt um Berliner, die keine Lust mehr auf Stress und Trubel haben. Die Rentnerin, die 40 Jahre lang in einer stattlichen Wohnung in Berlin gelebt hat, hat sich aus einem anderen Grund für Genthin entschieden. Das Haus wurde saniert, der Mietpreis sollte steigen. Als sie nach einer kleineren Wohnung in der Umgebung gesucht hat, stellte sie fest, dass die teurer ist, als ihre große war.

“Es gibt zwei so ‘ne Workstreams”, sagt der Bürgermeister. Es gibt die Rückkehrer, die an Weihnachten nach Hause kommen. “Die können wir hier abwerben.” Da bietet sich ja manchmal eine Gelegenheit, sagt Günther, wenn die Großmutter verstirbt und das Haus frei wird. Der andere Workstream, das sind die Berliner, die Großstädter. Die wirbt Günther im Radio ab: “Wir suchen Bürger und Fachkräfte.”

Das Hauptproblem, sagt Günther, ist die Zentralisierung. Alle wichtigen Behörden wurden zusammengelegt, in die nächste größere Stadt. Genthin hat den Status als Kreisstadt verloren. Genau wie das Amtsgericht und zuletzt das Krankenhaus. “Das macht die Menschen verrückt, die sagen: Es hat ja eh keinen Sinn mehr”, erzählt der Bürgermeister.

Sachsen-Anhalt, Deutschland: Im Rathaus von Genthin stehen Flaggen.

In diesem Jahr wäre das Krankenhaus in Genthin 150 Jahre alt geworden. Jetzt müssen die Leute mit Herzinfarkt nach Stendal fahren. “Das Krankenhaus hat alle Finanz- und Wirtschaftskrisen und zwei Weltkriege überlebt. Aber heute, wo es Deutschland so gut geht wie noch nie, machen wir es zu. Das können Sie niemandem mehr erklären”, sagt Günther.

Die Krankenhausgesellschaft wollte das Gebäude abreißen, aber der Architekturliebhaber Günther hat das verhindert. Seine erste Amtshandlung machte das Gebäude zum Denkmal. “Wir kämpfen, ich bin nicht unoptimistisch”, sagt Günther. Ein Investor baut bald 120 neue Wohnungen in der Stadt. Berlin kann kommen. Im Hotel “Stadt Genthin” hängt an der Wand ein Autogramm von Reiner Haseloff, Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt. Außerdem eine Urkunde über den zweiten Platz beim Kartoffelsuppenwettbewerb 2010. Es gibt Rinderrouladen, Kartoffeln, Rotkohl. Im Nebenraum probt der Männerchor Weihnachtslieder.

Genthin-Wannsee

Das Amtsgericht Brandenburg an der Havel lässt den Herbst hinein. Ein Gebäude aus Glas, Beton und Stahl, ziemlich nah am Puls der Zeit. Saal II, Richterin Karin Eichmann-Hoormann, die Brille nur auf der Nasenspitze, belehrt den Reporter: “Gibt heute nix Spannendes.”

Die erste Strafsache, angesetzt für 9.30 Uhr, fällt aus. Der Angeklagte ist krank. Die zweite Strafsache, angesetzt für 10 Uhr, fällt auch aus. Der Angeklagte ist nicht gekommen. Die dritte Strafsache, angesetzt für 11.30 Uhr, findet statt.

Der Angeklagte: ein Mann mit Brille und Halbglatze, sportlicher Typ, Jahrgang 1984, Fachoberschulreife, Hartz IV, eine Tochter, acht Jahre alt.

Der Tatvorwurf: vierfacher unerlaubter Erwerb von Betäubungsmitteln, Amphetamine.

Richterin: “Suchen Sie sich mal Arbeit. Sie haben eine Tochter, Sie wissen ja, wofür Sie arbeiten gehen würden. Sie können sich was Schönes kaufen, Ihre Tochter finanzieren, den Sinn des Lebens suchen.”

Das Urteil: 80 Tagessätze zu zwölf Euro.

“Konrad Adenaue” empfiehlt in einem Supermarkt ein Glas Wein.

Die vierte Strafsache, angesetzt für 12 Uhr.

Der Angeklagte: Diplom-Ingenieur im Ruhestand, Jahrgang 1947, wohnhaft in Neukölln, 960 Euro Rente, vierter Schlaganfall im März.

Der Tatvorwurf: Fahren ohne Führerschein.

Angeklagter: “Das war blöd. Das Auto stand vor der Tür, man hat das dann verdrängt. Das Auto musste weg.”

Das Urteil: sieben Monate auf Bewährung.

Die fünfte Strafsache, angesetzt für 12.30 Uhr, fällt aus. Der Angeklagte ist nicht gekommen.

Die sechste Strafsache, angesetzt für 13 Uhr, findet statt.

Der Angeklagte: geboren in Brandenburg an der Havel, Jahrgang 1961, seit 2006 geschieden, Produktionsarbeiter, 1800 Euro netto im Monat, zwei Kinder, drei Enkelkinder.

Der Tatvorwurf: Fahren trotz Trunkenheit, unerlaubtes Entfernen vom Unfallort.

Richterin: “Bei Ihnen wurden 2,32 Promille Alkohol im Blut gemessen, die Polizei schreibt, dass Sie nur leicht geschwankt haben und der Finger-Nase-Test funktioniert hat. Das ist kein Alkoholmissbrauch, sondern eine Alokoholabhängigkeit. Haben Sie das mal getestet?”

Angeklagter: “Ja, das kann schon sein.”

Das Urteil: 55 Tagessätze zu 60 Euro.

Die Sprecherin des Gerichts sagt, man solle sich wenigstens noch etwas Schönes ansehen in Brandenburg, den Dom. Wirklich, sehr schön.

Die Blätter sind gelber geworden.

Brandenburger Osthavelniederung. Groß Kreutz, Der Witz, Neu-Plötzin, Werder an der Havel. Äpfel wachsen in der Nähe. Die Havel, der Glindower See, der Große Plessower See. Das Resort Schwielowsee ist für Nicht-Gäste nicht besonders leicht zugänglich.

Auf dem Berliner Wannsee liegen Hausboote zum Ausleihen bereit.

Zehn Jahre ist es her, dass die SPD im Resort Schwielowsee ihren Vorsitzenden Kurt Beck entmachtete. Die Partei haderte mit schlechten Umfragewerten und Hartz IV. Der neue Vorsitzende Franz Müntefering rief aus: “Heißes Herz und klare Kante ist besser als Hose voll.”

Letzter Halt des Tages: Berlin-Wannsee. Es ist stockfinster.

Wannsee-Friedrichshain

Der Wannsee liegt verschlafen vor der Tür, ein älterer Herr fegt Laub. Das Haus der Wannseekonferenz öffnet um zehn, eine Schulklasse grölt herum. Die Nazis berieten in der Villa die „Endlösung der Judenfrage Europas”. Auf einer Tafel steht: „Die NSDAP stieg in der Krise der parlamentarischen Republik zu einer Massenbewegung auf.”

Bundesstraße 1: Fünf Kilometer rechts liegt Potsdam, drei Kilometer links Werder.

Die B1 führt ins Zentrum der Hauptstadt. Von Wannsee über Zehlendorf und Dahlem nach Mitte. Aus Stadt wird Großstadt. Die Häuser wachsen, die Autos werden teurer, die Menschen schneller. Ab Schöneberg Tempo 30, Luftreinhaltung.

Daniela, Talia und Marcel, man duzt sich, wärmen sich in einem spärlichen Büro des Vereins Gangway in Berlin-Friedrichshain an Tee. Vier, fünf Zimmer weiter hat die Deutsche Kommunistische Partei einen Sitz, unten arbeitet die Redaktion von „Neues Deutschland”, einer sozialistischen Zeitung. Um die Ecke ist das „Berghain“.

Daniela, Talia und Marcel, 44, 25 und 43, sind Streetworker. Friedrichshain ist ihr Bereich. Wahnsinnig viele Touristen, hip, bunt, friedlich. So beschreiben sie ihren Kiez. Bloß für Jugendliche ist es schwer. „Kommerzieller Raum ist massig vorhanden”, sagt Marcel Ramin, „aber kein nicht-kommerzieller Raum.”

Früher gab es in Friedrichshain Rückzugsorte in Hinterhöfen. „Wenn Jugendliche heute auf Spielplätzen abhängen, kommt sofort eine Mutter mit Latte Macchiato und verjagt sie”, sagt Daniela Telleis, seit 20 Jahren auf den Straßen Berlins unterwegs.

Die drei bewegen sich im Lebensraum der Jugendlichen, denen das Zuhause zu eng ist, gedanklich oder tatsächlich. Auf der Straße akzeptieren die Streetworker die Regeln der 14- bis 27-Jährigen. Sie treten nicht auf wie die Moralpolizei, mit erhobenem Zeigefinger und dem Daumen auf der Notruftaste.

Gangway, der Trägerverein, bietet Hallenfußball, Lebensratschläge und Ferienfreizeiten an. Die Unterkünfte werden so gebucht, dass sie jederzeit wieder abgesagt werden können. Keine Ahnung, ob die Jugendlichen wirklich mitkommen. “Je mehr soziale Medien es gibt, desto unverbindlicher werden die Menschen”, sagt Daniela.

Zurzeit beschäftigt sie hauptsächlich das Nachbarhaus. 300 bis 400 rumänische Roma, die zu elft oder zwölft in Ein- bis Drei-Zimmer-Wohnungen leben. Ein DDR-Plattenbau, unsaniert, nach dem Mauerfall stand er leer, bis eine Moskauer Firma das Bieterverfahren gewonnen und die Bretter von den Fenstern genommen hat. Die Kinder weichen auf die Straßen aus, dort treffen sie Daniela, Talia und Marcel. Die zeigen ihnen Jugendeinrichtungen oder helfen bei Problemen in der Schule.

Die Streetworker machen sich Sorgen. “Manchmal habe ich Angst, wohin es sich politisch entwickelt”, sagt Daniela. “Es gibt so viele Parallelen zur Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg”, sagt Marcel. “Eine gefährliche Entwicklung”, sagt Talia. Wie Pflaster seien sie als Streetworker. Es reicht nur für die kleinen Wunden.

Nach 778 Kilometern wartet dieses Hinweisschild auf Reisende.

Das Georg-Friedrich-Händel-Gymnasium, keine zwei Kilometer weiter. Auf die Schule kommt nur, wer ein Musikinstrument beherrscht. Alle Schüler sind verpflichtet, vier Stunden in der Woche in einem Chor oder Orchester des Gymnasiums zu proben. “Für die richtigen Freaks”, so nennt es Musiklehrer Manuel Haase, 29, gibt es einen weiteren Chor. Er wurde nach der Straße benannt, an der die Schule liegt: “Be one”.

Vera Zweiniger, 53, und Haase leiten den Chor. “Sei eins”, das gefällt ihnen gut, weil es darum ja genau gehe, bei einem Chor. Und dann liegt eben noch diese B1 vor der Tür.

Die Schüler sind politisch engagiert und reisen für den Unterricht aus Brandenburg an. Bei der U18-Wahl kamen die Grünen an dem Gymnasium auf mehr als 70 Prozent. Der Migrationsanteil unter den Schülern ist verschwindend gering. “Probleme wie andere Schulen in der Gegend haben wir nicht”, sagt Haase.

Sie fragen sich, ob es sinnvoll ist, den Dreiklang zu behandeln, während draußen die Bäume sterben. Oder ob Konzertreisen an das andere Ende der Welt noch zeitgemäß sind. “Es kommen globale Probleme auf uns zu, die unsere gesamte Existenz infrage stellen”, sagt Vera Zweiniger. “Die Gesellschaft droht zu kippen”, sagt Haase, “aber das können wir hier nicht beobachten.”

Draußen, auf der dunklen Straße, sitzt eine junge Frau mit braunen, halblangen Haaren breitbeinig auf einem Stromkasten. Sie trägt Sportklamotten und hat ihre weißen Tennissocken über die Leggings gezogen. Ihr Abendessen kommt aus einem Pappkarton, und der aus einem Imbiss. Bei der Metzgerei gegenüber essen Frauen mit Hornbrille und abrasierten Haaren, Kopfhörer im Ohr, Gulasch, Rotkohl und Knödel.

Friedrichshain-Küstrin

Der letzte Morgen beginnt auf der Straße. So wie Berlin auf der Fahrt hinein gewachsen ist, so schrumpft es auf der Fahrt hinaus. Die Häuser werden kleiner, die Autos älter, die Menschen langsamer. In Brandenburg verschwinden Windräder und Häuser im Nebel. Über den Wiesen und Feldern ist es grau und frisch. Die Bundesstraße 1 hangelt sich auf ihren letzten Kilometern wie ein Skifahrer auf dem Gletscher von Pfeiler zu Pfeiler. Die nächste Kurve kaum zu erkennen.

Bundesrepublik, ein Grenzpfahl vor Polen.

Irgendwo, hinter dem Baum, muss die Oder sein. Und irgendwo, hinter der Oder, das polnische Küstrin. 778 Kilometer, und dann liegt alles im Verborgenen.

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Von Henning Rasche (Text und Foto), Phil Ninh (Design und Programmierung)


RP ONLINE, 23.04.2024

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