RKI und Virologe Drosten besorgt Droht eine zweite Corona-Welle?

Berlin · Geschlossene Geschäfte können aufmachen: Zumindest Stück für Stück soll das öffentliche Leben normaler werden. Oder geht manches doch zu schnell? Die Krisenmanager wollen ein heikles Szenario vermeiden.

 Eine Krankenpflegerin arbeitet in in Schutzkleidung in einem Krankenzimmer auf der Intensivstation.

Eine Krankenpflegerin arbeitet in in Schutzkleidung in einem Krankenzimmer auf der Intensivstation.

Foto: dpa/Marcel Kusch

Nach Wochen strikter Kontaktbeschränkungen gibt es erste Lockerungen des Corona-Ausnahmezustands für Millionen Bürger und die Wirtschaft. Doch Politik und Mediziner treibt die bange Frage um: Wie ist das Virus trotzdem unter Kontrolle zu halten? Klar ist: Wenn sich wieder mehr Menschen begegnen - und sei es mit Masken vor Mund und Nase - schafft das prinzipiell Ausbreitungsmöglichkeiten. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mahnte eindringlich zur Vorsicht: „Wir dürfen uns keine Sekunde in Sicherheit wiegen.“ Denn da ist die Sorge, dass Infektionszahlen in einer zweiten Welle wieder hochschnellen könnten.

Auch das Robert Koch-Institut (RKI) machte am Dienstag klar, dass Hoffnungen auf eine Rückkehr zur Normalität wegen erster Lockerungen noch nicht angebracht sind. Vielmehr zeigte sich RKI-Vizepräsident Lars Schaade besorgt, dass sich nun viele Menschen anstecken könnten. „Wenn die Fallzahlen in die Höhe schießen, kann das Gesundheitssystem immer noch sehr schnell überlastet werden.“ Das RKI appellierte daran, sich weiter an die Empfehlungen zu halten: möglichst zu Hause bleiben, Abstand halten, Hygiene. Bis ein Impfstoff verfügbar sei, gelte es, sich so zu verhalten, dass Infektionen vermieden werden. Experten rechnen frühestens im Frühjahr 2021 mit einem Impfstoff.

Der Charité-Virologe Christian Drosten mahnte jüngst im NDR-Podcast, dass die erfreulich wirkenden Zahlen zum Infektionsgeschehen trügen könnten: Das Virus verbreite sich auch aktuell weiter, unter der Decke der Maßnahmen. Er rechne mit „fast zwangsläufigen“ Diffusionseffekten, sagte Drosten. Gemeint ist die Verbreitung in bisher weniger betroffenen Orten und in höheren Altersgruppen, etwa weil einzelne Menschen sich trotz der Kontaktbeschränkungen getroffen und das Virus weitergetragen haben.

Wenn die sogenannte Reproduktionszahl nach Lockerung der Maßnahmen wieder über 1 kommen sollte - also ein Infizierter wieder mehr als einen anderen Menschen ansteckt -, könne die Epidemietätigkeit in unerwarteter Wucht wieder losgehen, sagte Drosten. Ende vergangener Woche hatte er angesichts von Erkenntnissen aus der Spanischen Grippe vor der Gefahr einer zweiten Welle gewarnt, die nicht mehr nur an einzelnen Orten losrollt und damit schlimmer werden könnte. Bisher waren Ausbrüche regional unterschiedlich verteilt: Betroffen waren vor allem Orte, in die Rückkehrer aus dem Skiurlaub das Virus mitgebracht hatten.

Bei einer vorschnellen Rücknahme aller oder eines großen Teils kontaktbeschränkender Maßnahmen bestehe die grundsätzliche Gefahr einer zweiten Welle, bestätigt auch Schaade vom RKI. Je weniger der Mensch das Virus durch das Verhalten daran hindere, von Mensch zu Mensch zu springen, desto eher verbreite es sich wieder. Die Reproduktionszahl steige dann wieder auf Werte zwischen zwei und drei: Das heißt, ein Infizierter steckt zwei bis drei andere Menschen an. Derzeit liegt der Wert bei 0,9. „Wenn wir alle weiter jetzt so tun, als ob das Problem überwunden wäre, werden wir wieder einen Ausbruch haben. Das ist ziemlich sicher“, warnte Schaade.

Auch die Bundesregierung sieht die Gefahr - und will ein Szenario vermeiden, bei dem rigide Beschränkungen womöglich wieder von vorne losgehen müssten. „Es wäre jammerschade, wenn wir sehenden Auges in einen Rückfall gehen“, formulierte es Merkel. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mahnt, in kleinen Schritten vorzugehen und immer erst eine Zeit lang zu schauen, welche Folgen sich daraus für das Infektionsgeschehen und die Behandlungskapazitäten ergeben. Das sei sinnvoller, als mutig voranzugehen und wieder zurück zu müssen.

Eine heftige zweite Welle ist jedoch auch keineswegs programmiert, der weitere Verlauf ist mit zahlreichen Unwägbarkeiten verbunden. Drosten hatte auch auf die Möglichkeit positiver Überraschungen hingewiesen, es gebe schließlich ungeklärte Fragen: Zum Beispiel stelle sich vielleicht noch heraus, dass es eine bisher unbemerkte Hintergrundimmunität durch Erkältungs-Coronaviren gebe. Offen ist auch, ob Ansteckungen über den Sommer womöglich etwas weniger werden, etwa weil sich Menschen weniger in geschlossen Räumen aufhalten.

Klar ist hingegen: Mögliche neue Ausbrüche würden nicht unmittelbar in Meldezahlen sichtbar. Effekte von Lockerungen oder Verschärfungen lassen sich erst nach etwa 14 Tagen in der RKI-Statistik ablesen. Zwar zeigen sich Symptome der Erkrankung früher, es vergeht aber Zeit für Test und Meldung ans RKI. Bund und Länder peilen denn auch einen Takt von 14 Tagen an, um Krisenmaßnahmen jeweils aktuell zu überprüfen.

Für ein „natürliches Auslaufen“ der Pandemie müssen Experten zufolge 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung infiziert gewesen sein. Nach derzeitigem Stand der RKI-Statistik waren oder sind erst 173 von je 100.000 Einwohnern mit Sars-CoV-2 infiziert. Auch wenn eine merkliche Dunkelziffer nicht erfasster Fälle zu vermuten ist: Bis der für ein Auslaufen nötige Wert von 60.000 bis 70.000 Infektionen je 100.000 Einwohner erreicht ist, würde es noch lange dauern. Wahrscheinlicher ist ein Stopp der Pandemie durch Impfungen.

(ala/dpa)
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