Corona-Pandemie Die Toten von New York

New York · Leichen in Lastwagen, Massengräber und ein sprunghafter Anstieg der Anzahl der Toten: Die Metropole kämpft nicht nur mit den Folgen der Corona-Pandemie, sondern auch mit Gerüchten, Halbwahrheiten und Datensalat.

 Arbeiter in Schutzanzügen bestatten Tote auf Hart Island im Long Island Sound vor New York.

Arbeiter in Schutzanzügen bestatten Tote auf Hart Island im Long Island Sound vor New York.

Foto: AP/John Minchillo

Bis vor Kurzem gehörten Sirenen zu New York wie die Skyline: Touristen staunten oder meckerten über den immensen Lärmpegel, Einwohner zuckten die Achseln. Doch das ist vorbei. Plötzlich sind die Sirenen vielen New Yorkern unheimlich; inmitten ungewohnter Stille macht das Schrillen es schwer, nicht an die Toten zu denken.

„Unsere größte Sorge ist, dass wir uns anstecken und das Virus mit nach Hause bringen“, sagt Michael Greco, Vizepräsident der Ersthelfer-Gewerkschaft FDNY Local 2507. Mehrere Mitglieder seiner Gewerkschaft hätten bereits Angehörige verloren, nachdem sie selbst Symptome zeigten. Viele Sanitäter würden deshalb versuchen, ihre Familie wegzuschicken – oder selbst für die Dauer der Pandemie nicht mehr nach Hause gehen.

An einem durchschnittlichen Tag sterben in New York zwischen 145 und 160 Menschen. Im vergangenen Monat hat sich die Zahl mehr als verdoppelt. Viele Friedhöfe und Krematorien sind auf Wochen ausgebucht. Beerdigungsinstitute empfehlen den Angehörigen zuweilen, die Verstorbenen so lange wie möglich im Krankenhaus zu halten. Diese erweitern ihre Leichenhallen mit einem Kühl-Lkw vor der Tür; die Stadt New York hat 45 mobile Leichenhallen eingerichtet.

Hilfe kommt auch von auswärts. Per Dekret des Gouverneurs dürfen nun auch Bestatter aus anderen Bundesstaaten in New York praktizieren. Hunderte Fachleute wollen den New Yorker Krankenhäusern ehrenamtlich beim Umgang mit Verstorbenen helfen.

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Manchmal ist unklar, wen das Krankenhaus im Todesfall benachrichtigen soll. Das war auch schon vor Covid-19 so: Da klappt ein Mensch zusammen, der keinen Ausweis bei sich trägt, oder es melden sich keine Angehörigen. Nach einer Wartezeit von 30 Tagen, die angesichts der Pandemie nun auf 14 Tage gesenkt wurde, begräbt die Stadt diese Toten auf Hart Island. Diese Lösung bietet sie auch Familien, die die Kosten für eine Beerdigung nicht aufbringen können.

Bereits seit 1869 ist Hart Island ein unzugänglicher Friedhof für Arme und unbekannte Tote. Einmal pro Woche – neuerdings öfter – heben Arbeiter auf der Insel Gräben aus, in denen einfache Särge reihenweise unter die Erde kommen; akribisch halten sie nach, wer wo liegt. Um Aufmerksamkeit für das Hart Island Project zu schaffen, das online die Geschichten der Toten erzählt, veröffentlichte die Künstlerin Melinda Hunt Anfang April das Drohnenvideo eines typischen Massenbegräbnisses – und bereitete damit den Boden für Missverständnisse. Bald verbreitete sich das Gerücht, New York plane Massenbegräbnisse in einem Park – angestoßen von einer Serie von Tweets des New Yorker Stadtrats Mark Levine, die dieser bald wieder löschte.

Tatsächlich steigt die Anzahl der Menschen nicht mehr, die mit Covid-19 ins Krankenhaus müssen, und auch beim Notruf scheint sich die Lage zu entspannen. Am Sonntag registrierte man mit ungefähr 4000 medizinischen Notrufen erstmals wieder das übliche Tagesniveau. Zu Spitzenzeiten Ende März waren 6500 medizinische Notrufe an einem Tag eingegangen – einer alle 15 Sekunden. Um das Aufkommen abzufedern, schickte die US-Katastrophenschutzbehörde Fema Anfang April 250 Krankenwagen samt Besatzung, und die New Yorker Feuerwehr steuert schnelle Einsatzkräfte bei, mit deren Fahrzeugen zwar kein Krankentransport möglich ist, wohl aber eine Behandlung.

Doch nun berichten Sanitäter immer öfter von Menschen, denen sie nicht mehr helfen können. In den ersten Apriltagen mussten New Yorker Krankenwagen-Teams deutlich mehr als 200 Todesfälle am Tag bewältigen. „Für uns hat sich die Lage von durchschnittlich 40-70 Notrufen wegen Herzstillständen pro Tag auf fast 400 verschärft“, sagt der Gewerkschaftler Michael Greco. Vor Beginn der Pandemie lag der New Yorker Durchschnitt für Todesfälle nach einem Notruf bei 20 bis 25. Das hat zu Spekulationen darüber geführt, wie viele dieser Menschen an Covid-19 gestorben sind – und dennoch nicht in der Statistik auftauchen.

Wie anderswo beziehen sich die New Yorker Daten zu „Infizierten“ nicht auf alle Erkrankten, sondern nur auf Personen, die positiv auf das Virus getestet wurden. Dass dasselbe auf die Anzahl der an Covid-19 Gestorbenen zutrifft, brockte der Stadt aber Vorwürfe ein, sie unterschlage Daten.

Schließlich führte das Gesundheitsamt am Dienstag eine neue Spalte in die Covid-19-Statistik ein: Neben „bestätigt“ gibt es da nun auch „wahrscheinlich“ – für ungetestete Menschen, bei denen man von einem Covid-19-Tod ausgeht. Diese neue Zählart ließ nun die Gesamtzahl der Coronavirus-Toten in New York mit fast 4000 neuen Daten über die 10.000er-Schwelle springen – kein realer, sondern ein statistischer Anstieg.

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