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Gastbeitrag von Rafael Seligmann Demut und Verantwortungsbewusstsein sind gefragt

Höher, schneller, weiter, gesünder, jünger, mehr, mehr, mehr – in der Corona-Krise es ist höchste Zeit, diese Mentalität zu überdenken. Wir brauchen nun Demut und Verantwortungsbewusstsein. Ein Gastbeitrag von Rafael Seligmann.

 Der Publizist und Zeithistoriker Rafael Seligmann (Archiv).

Der Publizist und Zeithistoriker Rafael Seligmann (Archiv).

Foto: dpa/Foto: dpa

Was werden wir aus der Corona-Seuche lernen? Noch bevor wir den ersten Höhepunkt der Pandemie überstanden haben und ehe wir ihren vollen Preis kennen, sollten wir uns bereits Gedanken über die Schlussfolgerungen aus der Massenerkrankung machen. Denn die vielfach leichtsinnige, unwahrhaftige und hilflose Reaktion in der Anfangszeit der Seuche haben uns gezeigt, dass die bisherige Grundhaltung der Gesellschaft, insbesondere ihrer wirtschaftlichen und politischen Eliten in Zeiten großer Herausforderungen und Krisen ungenügend ist. Auf diese Weise wurden unnötige Opfer fahrlässig in Kauf genommen. Was in unserer modernen Zeit eindeutig gefehlt hat, sind Demut und Verantwortungsbewusstsein.

In Europa leben wir seit einem dreiviertel Jahrhundert in Frieden und überwiegend im anschwellenden Wohlstand. Wer wie ich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland zwischen Ruinen und in äußerst bescheidenen Verhältnissen aufwuchs, den beschleichen gelegentlich Zweifel über den Sinn des bedenkenlosen Reichtums, ja der Verschwendungsbereitschaft unserer Gesellschaft. Wenn die Waschmaschine kaputt ist, wird eine neue gekauft. Wie viele Haushalte besaßen 1950 in Deutschland oder woanders eine Waschmaschine, einen Staubsauger, gar ein Auto? Diese Güter sind heute kein Luxus, sondern Selbstverständlichkeiten, ja „Essentials“.

Seit Jahrzehnten hat sich in den entwickelten Staaten eine Mentalität der Maß- und Bedenkenlosigkeit durchgesetzt. Immer mehr, immer schneller, immer gesünder, immer jünger. Gefragt sind Durchsetzungsfähigkeit und Stressresilienz. Wer sich Gedanken machte und Skrupel zeigte, wurde als „Bedenkenträger“ verlacht. Alter galt als überholt. Achtzigjährige ehemalige Filmstars gaben mit dickem Make-up und durch Schönheitsoperationen überstrafft in Werbespots vor, das Altern überwunden zu haben.

Die tatsächlich Älteren wurden in Seniorenresidenzen abgeschoben. In diesen Einrichtungen lassen sich, selbst an Wochenenden, kaum jüngere Angehörige sehen. Die Gegenwart der „Unfitten“ stört beim vermeintlich schrankenlosen Genuss des Lebens. Nichts soll die Wohlfühlatmosphäre beeinträchtigen. Denn Verantwortung gegenüber den Älteren ist mit Zeitaufwand und gelegentlich unangenehmen Gefühlen verbunden.

Ärztliche Vorsorge, höhere Bettenkapazität in Kliniken, Notfallmedizin sind kostspielig. Deutschland ist relativ gut ausgestattet. In den Vereinigten Staaten hat Präsident Trump die von seinem Vorgänger Obama mühsam erkämpfte medizinische Grundversorgung der Gesamtbevölkerung weitgehend wieder abgeschafft, ebenso wie die Pandemieprävention. In Frankreich, Großbritannien, Italien mit einer Bevölkerung von jeweils mehr als sechzig Millionen Einwohnern gab es gerade mal 5000 Intensivbetten. Das ist auch ohne Pandemie verantwortungslos – etwa bei Naturkatastrophen, atomaren, biologischen oder chemischen Unfällen. Entsprechend hoch waren die Opferzahlen in diesen Ländern.

Es geht nicht um Kritik an Einzelmaßnahmen, sondern um die grundsätzliche Geisteshaltung der Bevölkerung und ihrer Führungsschicht. Religiöse Überzeugung hilft die Menschen vor Selbstüberschätzung zu bewahren. Wir sind Geschöpfe Gottes und haben mit Liebe unseren Nächsten zu begegnen. Doch die jüngste Geschichte lehrt uns, dass Religion keine Garantie gegen schieren Egoismus und Untaten ist. Zudem sind religiöse Erziehung und Glaube freiwillig. Humanistische Werte wie die Menschenwürde zeitigen ähnliche Ergebnisse: Demut und Verantwortungsbewusstsein.

Die Corona-Seuche hält uns den Spiegel vor. Sie zeigt den Menschen, dass ihre Macht, das Geschehen zu beherrschen, begrenzt ist. Wer sich seine Feinfühligkeit und unabhängige Denkfähigkeit bewahrt hat, wusste stets, dass unsere Gestaltungsfähigkeit beschränkt war. Und wer jetzt meint, er müsse bereits jetzt, noch ehe die Seuche überwunden ist, die Wirtschaft auf Teufel komm raus anwerfen und dafür bereit ist, die älteren, weil unproduktiven Jahrgänge, die ohnehin bald sterben würden, unter Quarantäne zu stellen, der hat nichts begriffen. Eine reifere Einsicht beweist der Microsoft-Gründer Bill Gates: „Die Wirtschaft können wir wieder aufbauen. Die Toten zurückholen nicht!“, warnte der Unternehmer und Philanthrop.

Die Corona-Krise ist eine entscheidende Prüfung unserer Gesellschaft. Wir werden sie und zukünftige Herausforderungen nur in Demut und mit Verantwortungsbewusstsein bestehen.

Rafael Seligmann, 72, verfasste zuletzt den Roman „Lauf Ludwig, lauf. Eine Jugend zwischen Fußball und Synagoge“.

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