Entscheidung in Karlsruhe Bundesverfassungsgericht verpflichtet Gesetzgeber zu Triage-Regelungen

Karlsruhe · In der Corona-Pandemie droht die Situation, dass Intensivstationen nicht mehr alle Patienten aufnehmen können - und eine Auswahl treffen müssen. Menschen mit Behinderungen befürchten, im Zweifel aufgegeben zu werden. Das höchste deutsche Gericht hat nun dazu entschieden.

 Ein Covid-19-Patient wird verlegt (Symbolfoto).

Ein Covid-19-Patient wird verlegt (Symbolfoto).

Foto: dpa/Fabian Strauch

Der Bundestag muss „unverzüglich“ Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen im Fall einer sogenannten Triage treffen. Das Bundesverfassungsgericht teilte am Dienstag in Karlsruhe mit, aus dem Schutzauftrag wegen des Risikos für das höchstrangige Rechtsgut Leben folge eine Handlungspflicht für den Gesetzgeber. Diese habe er verletzt, weil er keine entsprechenden Vorkehrungen getroffen habe. Er müsse dieser Pflicht in Pandemiezeiten nachkommen. Bei der konkreten Ausgestaltung habe er Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum. (Az. 1 BvR 1541/20)

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) begrüßte den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts „ausdrücklich“. Bei Twitter schrieb der SPD-Politiker weiter: „Menschen mit Behinderung bedürfen mehr als alle anderen des Schutzes durch den Staat. Erst Recht im Falle einer Triage. Jetzt aber heißt es, Triage durch wirksame Schutzmaßnahmen und Impfungen zu verhindern.“

FDP-Vize Wolfgang Kubicki bezeichnete das Triage-Urteil des Bundesverfassungsgerichts als „rechtlich nachvollziehbar“. „Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ist rechtlich nachvollziehbar, da nach der Wertentscheidung unseres Grundgesetzes Fragen von Leben und Tod durch den Gesetzgeber entschieden werden müssen und nicht durch private Übereinkunft“, sagte Kubicki unserer Redaktion. „Dass die Union, die den Bundesgesundheitsminister in der vergangenen Legislaturperiode stellte, hier über anderthalb Jahre nicht tätig geworden ist, passt leider ins Bild einer lediglich auf Kurzfristigkeit ausgelegten Corona-Politik unter Kanzlerin Merkel“, sagte der Jurist und  Bundestagsvizepräsident. 

Der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, begrüßte das Triage-Urteil und bezeichnete es als überfällig. „Auf dieses Urteil haben wir 40 Jahre lang gewartet“, sagte Brysch unserer Redaktion. „Entscheidungen über Leben und Tod in Knappheitssituationen dürfen nicht den Ärzten überlassen werden. Der Deutsche Bundestag darf sich da nicht weiter wegducken“, sagte der oberste deutsche Patientenschützer. „Das Verfassungsgericht hat den Bundestag nun mit diesem Urteil gezwungen, im kommenden Jahr ein Gesetz zu beschließen, das Leitplanken für die Behandlung von Patienten in Knappheitssituationen setzt“, sagte Brysch. „Das ist überfällig, denn wir erleben ja jetzt in der Corona-Krise solche Knappheiten auf den Intensivstationen“, sagte Brysch. „Die Politik ist bei dieser schwierigen Frage nicht außen vor, denn sie stellt ja die Finanzmittel für das Gesundheitssystem bereit.“ 

Das Wort Triage stammt vom französischen Verb „trier“, das „sortieren“ oder „aussuchen“ bedeutet. Es beschreibt eine Situation, in der Ärzte entscheiden müssen, wen sie retten und wen nicht - zum Beispiel, weil so viele schwerstkranke Corona-Patienten in die Krankenhäuser kommen, dass es nicht genug Intensivbetten gibt.

Neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen haben Verfassungsbeschwerde eingereicht. Sie befürchten, von Ärzten aufgegeben zu werden, wenn keine Vorgaben existieren. Das höchste deutsche Gericht gab ihnen nun Recht. Niemand dürfe wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt werden.

Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) hat mit anderen Fachgesellschaften „Klinisch-ethische Empfehlungen“ erarbeitet. Die Klägerinnen und Kläger sehen die dort genannten Kriterien mit Sorge, weil auch die Gebrechlichkeit des Patienten und zusätzlich bestehende Krankheiten eine Rolle spielen. Sie befürchten, aufgrund ihrer statistisch schlechteren Überlebenschancen immer das Nachsehen zu haben.

Das Verfassungsgericht erläuterte, die Empfehlungen der Divi seien rechtlich nicht verbindlich und „kein Synonym für den medizinischen Standard im Fachrecht“. Zudem weist es auf die möglichen Risiken bei der Beurteilung hin, die sich aus den Empfehlungen ergeben könnten. Es müsse sichergestellt sein, „dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird“.

Der Gesetzgeber habe mehrere Möglichkeiten, dem Risiko einer Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Zuteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Ressourcen wirkungsvoll zu begegnen, befand das Gericht. Als Beispiel wurden Vorgaben für ein Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen genannt oder Regelungen zur Unterstützung vor Ort. „Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, welche Maßnahmen zweckdienlich sind“, hieß es in der Mitteilung.

Die Verfassungsbeschwerde ist schon seit Mitte 2020 in Karlsruhe anhängig. Damit verbunden war auch ein Eilantrag - den die Richterinnen und Richter des zuständigen Ersten Senats unter Gerichtspräsident Stephan Harbarth allerdings abgewiesen hatten. Sie teilten damals mit, das Verfahren werfe schwierige Fragen auf, die nicht auf die Schnelle beantwortet werden könnten.

VdK-Präsidentin Verena Bentele erklärte: „Es kann und darf nicht sein, dass Medizinerinnen und Mediziner in einer so wichtigen Frage allein gelassen werden, dafür braucht es eine gesetzliche Grundlage.“ Patientenschützer Brysch sagte, die nun nötige Diskussion brauche etwas Zeit. „Das ist ein äußerst komplexes Thema.“ Er erwarte aber binnen eines Jahres Ergebnisse. „Wir wissen ja nicht, wie die Lage im nächsten Herbst ist.“ Wichtig sei nun, dass die Fraktionen im Bundestag einen Fahrplan vorlegen. Auch die Bundesregierung sei gefordert, Vorschläge zu unterbreiten.

SPD-Fraktionsvize Dagmar Schmidt erklärte, das Thema sei im vergangenen Jahr diskutiert worden, und der Beschluss könne nun schnell umgesetzt werden. Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann schrieb auf Twitter: „Jetzt wird im Bundestag eine sorgfältige Prüfung & Erörterung nötig sein, wie dies gestaltet werden kann.“ FDP-Vizechef und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki kritisierte in der „Rheinischen Post“ (Mittwoch) die Vorgängerregierung: „Dass die Union, die den Bundesgesundheitsminister in der vergangenen Legislaturperiode stellte, hier über anderthalb Jahre nicht tätig geworden ist, passt leider ins Bild einer lediglich auf Kurzfristigkeit ausgelegten Corona-Politik unter Kanzlerin Merkel.“

(zim/jma/hebu/dpa)
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