Folgen der Pandemie für Jugendliche „So viele Fälle von Essstörungen und Selbstverletzungen hatten wir noch nie“

Düsseldorf · Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden an Essstörungen, Suizidgedanken und Depressionen. Die Pandemie hat bereits bestehende Ängste, Sorgen und Probleme massiv verstärkt. Kinderärzte warnen deshalb davor, die Schulen zu schließen.

 Kinderärzte berichten über eine massive Zunahme von Krankheiten wie Adipositas, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie psychiatrische Erkrankungen, wie etwa Depressionen.

Kinderärzte berichten über eine massive Zunahme von Krankheiten wie Adipositas, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie psychiatrische Erkrankungen, wie etwa Depressionen.

Foto: dpa-tmn/Christin Klose

Keine Treffen mit Freunden, Feiertage ohne die Liebsten, Besuchsverbote für Angehörige in Krankenhäusern und Pflegeheimen: Die Corona-Pandemie hat allen viel abverlangt in den vergangenen eineinhalb Jahren. Das gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche, von denen viele durch die Kontaktbeschränkungen an die Grenzen ihrer körperlichen und seelischen Belastbarkeit gebracht wurden – und häufig auch darüber hinaus. Das berichten Kinder- und Jugendärzte aus NRW, die deshalb eindringlich vor erneuten Schulschließungen warnen.

„So viele Fälle von Essstörungen, selbstverletzendem Verhalten bis hin zu Suizidversuchen hatten wir noch nie“, sagt Axel Gerschlauer, Facharzt für Kinder und Jugendmedizin in Bonn. Die Pandemie habe zu einer massiven Zunahme der sogenannten neuen Kinderkrankheiten geführt. Hierzu zählen unter anderem Adipositas, also krankhaftes Übergewicht, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie psychiatrische Erkrankungen, wie etwa Depressionen. Die Fallzahlen, sagt Gerschlauer, seien regelrecht „explodiert“.

Betroffen sind aber nicht nur Kinder und Jugendliche aus sozialschwachen Familien: „Ein Garten und ein gutes Elternhaus sind in der Pandemie kein Garant für psychische Gesundheit“, sagt Gerschlauer, der als Landessprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte den Bezirk Nordrhein vertritt. In seine Praxis kämen Heranwachsende aus alle Teilen der Gesellschaft, die über psychische Beschwerden infolge der Maßnahmen klagen. Erst vor kurzem, sagt er, seien erneut zwei Patienten mit Suizidgedanken bei ihm gewesen.

Neben den psychischen Auswirkungen der Pandemie, sagt Gerschlauer, würden seine Kollegen im gesamten Bundesgebiet einen enormen Anstieg von jungen Patienten mit krankhaftem Übergewicht beklagen: „Wir sprechen hier in Extremfällen über eine Gewichtszunahme von bis zu 30 Kilogramm innerhalb eines Jahres“. Das liege unter anderem an mangelnder Bewegung, etwa in Folge des Heimunterrichts und des Wegfalls von Vereinssport.

Einen erneuten Schul-Lockdown hält Gerschlauer für nicht vertretbar: Das würden viele Kinder und Jugendliche nicht überstehen, sagt er. Denn die seien schon jetzt die großen Verlierer dieser Pandemie: „Mir ist es völlig egal, ob die Kinos schließen, aber die Schulen müssen offen bleiben“, sagt er.

Von einer hohen psychischen Belastung Minderjähriger im Zuge der Pandemie berichtet auch Dorothea Jacobs, Chefärztin der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Asklepios Kinderklinik Sankt Augustin. Die Nachfrage nach Therapieplätzen sei derzeit „sehr groß“ und die Warteliste entsprechend lang. Die Patienten, sagt sie, müssten momentan viele Woche warten, bevor die oft dringend benötigte Behandlung beginnen kann. Und das, obwohl die Abteilung erst kürzlich um zehn neue Therapieplätze für Kinder erweitert wurde.

Die Corona-Pandemie, sagt Jacobs, habe wie ein Brennglas gewirkt: Bereits bestehende Probleme würden verschlimmert oder wandelten sich zu chronischen Erkrankungen. Viele Kinder und Jugendliche hätten im Verlauf der Pandemie über Einsamkeit und Selbstzweifel geklagt; Freundschaften seien kaputt gegangen und Hobbys aufgegeben worden. Durch den sozialen Rückzug wurde verlernt auf neue Menschen zuzugehen – Sozialphobien entstanden. Schüler, die sich ohnehin wenig am Unterricht beteiligten, hätten die mündliche Mitarbeit im digitalen Unterricht komplett eingestellt, sagt Jacobs. Betroffene von Mobbing verspürten noch größere Angst als zuvor, und Essstörungen hätten massiv zugenommen.

„Wir haben einen langen Weg vor uns, um das wieder auszugleichen, Hoffnung und Kraft zu vermitteln und eine Wiedereingewöhnung in den Alltag zu bewerkstelligen“, sagt Jacobs. Sie hoffe, dass es keine erneute Schließung der Schulen geben wird: „Viele meiner Patienten fürchten sich davor“.

Inzwischen lässt sich die Belastung für Kinder- und Jugendliche in der Corona-Pandemie auch anhand von Zahlen nachweisen: Es gibt Studien, sagt Peter Borusiak, Chefarzt am Kinderneurologischen Zentrum der LVR-Klinik Bonn, die eindeutig belegten, dass die Lebensqualität von Kindern während der Pandemie abgenommen habe. Andere Forschungsergebnisse zeigten einen deutlichen Anstieg bei den sogenannten internalisierenden Störungen. Das sind psychische Erkrankungen, wie etwa Angststörungen oder Depressionen, bei denen sich die Patienten zurückziehen.

„Kinder und Jugendliche erleben durch die Pandemie eine erhebliche Verunsicherung. Vieles, was sie bisher an Werten gelernt haben, bricht einfach weg“, sagt Borusiak. So waren das Spielen mit Freunden und gemeinsame Mahlzeiten plötzlich ein Tabu. Und auch die Darstellung der Kinder in den Medien als Überträger des Virus, sagt Borusiak, sei problematisch: „Wenn du immer zu hören bekommst, ‚du gefährdest Oma und Opa‘, dann bist du als Kind natürlich verunsichert“.

Die Probleme beschränken sich Borusiak zufolge jedoch nicht nur auf Deutschland: So würden zwei kürzlich erschienene Berichte von UNICEF sowie einer Kinderschutzorganisation belegen, dass Kinder und Jugendliche im Rahmen der Pandemie weltweit „unter die Räder gekommen sind“. Inzwischen erkenne man deutlich die Ausmaße der massiven Belastung der Psyche von Kindern und Jugendlichen.

In anderen Bereichen sei die Datenlage allerdings weniger klar, sagt Borusiak. So könne man etwa aktuell nicht sagen, ob die Pandemie zu einer Veränderung bei der Mediennutzung geführt hat – sprich: ob Kinder- und Jugendliche mehr Zeit vor den Bildschirmen verbringen. Dies könne auch Teil eines längerfristigen Trends sein, sagt Borusiak. Und auch bei Erkrankungen wie ADHS sei bisher kein Anstieg der Fallzahlen nachweisbar.

Für die Zukunft wünscht sich Borusiak, dass auch Kinder und Jugendliche als systemrelevant angesehen werden. Außerdem fordert er, dass nach der Pandemie nicht einfach zum Alltag übergegangen wird, sondern Lehren aus dem Geschehenen gezogen und „vulnerable Gruppen“ aus sozial benachteiligten Verhältnissen bei der Aufarbeitung unterstützt werden.

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