Vor über 2000 Jahren Wie ein römischer Dichter die Corona-Pandemie vorherzusagen schien

Rom · Der lateinische Autor Lukrez und sein grandioses Weltgedicht: „De rerum natura“ erklärt die Natur und die Schönheit des Lebens, doch auch die Entstehung von Seuchen. Manches liest sich, als habe der Dichter die Corona-Zeit kommen sehen.

 Ein Lukrez-Porträt unbekannter Herkunft aus dem 18. Jahrhundert.

Ein Lukrez-Porträt unbekannter Herkunft aus dem 18. Jahrhundert.

Foto: picture-alliance / Leemage/dpa

Unsere Götter? Die halten sich heraus aus allen weltlichen Dingen. Sie bleiben, wo sie sind. Verantwortung tragen sie nicht. Die Welt zeigt ja, dass die Allerobersten gar nicht mitgewirkt haben können: vieles fehlerhaft und halbfertig. Für das Seniorenheim der Götter gibt es in der Lehre, die unser Dichter vertritt, eine Adresse: die Intermundien, die Zwischenwelten. Dies ist eine Art olympische Nische, ein Refugium für Ausgediente.

 Unser Dichter! So haben viele voller Bewunderung ausgerufen, die in den Bann des großen Lukrez geraten waren: Diderot, Galilei, Montaigne, Shakespeare, Kant, Nietzsche, Camus. In seiner Doktorarbeit beruft Marx sich auf ihn, und Thomas Jefferson hatte Lukrez in gleich fünf Ausgaben im Regal. Sie alle haben das furiose Lehrgedicht des antiken Meisters gekannt und Nektar aus ihm gesogen. „De rerum natura“ (Von der Natur der Dinge) ist ein Trumm in sechs kolossalen Kapiteln, ein Welterklärungs-Kaleidoskop in Hexametern. Dieses Werk, das viele Jahrhunderte verschollen war, bis Bücherjäger es im Mittelalter aufspürten, weist auf vieles voraus, sogar auf unsere Zeit, auf die Entstehung einer Seuche. Auf Corona.

Zunächst aber weist Lukrez zurück. Der Dichter, der im ersten vorchristlichen Jahrhundert lebte und keine 50 Jahre alt wurde (die genauen Lebensdaten sind unbekannt), verstand sich als Sprachrohr eines Philosophen, der aus Griechenland stammte: Epikur. Dessen Denken hat er sprachlich geschliffen und für die lateinische Welt aufbereitet. An vielem, das Lukrez ihnen nahezubringen suchte, konnten die Römer indes keinen Gefallen finden. Das mit den Göttern war nur der erste Stein des Anstoßes.

Titus Lucretius Carus (so sein vollständiger Name) dachte, darin Nachfolger von Demokrit, streng atomistisch. Alles besteht aus unendlich vielen Teilchen, die sich immer neu fügen. Wenn sie zerfallen, zerfällt alles, auch der Mensch. Bitter die Lehre: Sogar seine Seele ist sterblich. Nach dem Tod kommt nichts. Der Mensch besitzt deshalb keine spirituell oder religiös angehauchte Sonderstellung. Fürchten muss er sich aber auch nicht, erst recht nicht vor abwesenden Göttern. Selbst der Tod, glaubte Lukrez, verbreite keinerlei Schrecken. Deshalb könne der Mensch das Leben genießen, Seelenruhe und Gelassenheit erlangen – und vor allem: glücklich sein. Diese Auffassung härtete er zu einem seiner schillerndsten Sätze: „Der Tod geht uns nichts an, das Leben schon.“

Der Römer seiner Zeit befand sich fortwährend im Krieg, Lukrez hasste ihn. Er verabscheute die Arenen und blutigen Kämpfe, die Gier nach Ruhm und Macht. Ämter strebte er nicht an. Das könnte man für epikureische Selbstgenügsamkeit halten, für eine Form von Hedonismus, in welcher der Mensch sein Bäuchlein pflegt und sich um das Öffentliche, Staatliche nicht schert. So ist es nicht. Epikur und sein Lukrez sind voll von moralisch-ethischem Erkenntnisgewinn, etwa die fast ergreifende Passage über den Gewaltverzicht zum Schutz von Schwächeren. Politik findet in einem ideologiefreien Raum statt, in dem einzig der Mensch mit seinen Sehnsüchten und Bedürfnissen Platz haben darf. Und die Natur ist – fast ein grüner Gedanke – die Lehrmeisterin aller Dinge. De rerum natura.

Von Lukrez‘ Meisterwerk sagte Ovid, es gehe erst unter, wenn auch die Welt verschwinde. Und Vergil glaubte, Lukrez habe „der Dinge Ursprung ergründet und jegliche Furcht niedergetreten“. Andere lehnten ihn ab. Cicero etwa, der mit Lukrez philosophisch sowieso nicht auf einer Linie lag, schrieb ironisch, Lukrez‘ Gedichte böten „manch schönen Geistesblitz, doch auch bemerkenswerten Kunstsinn“. Eher ferkelige Worte fand Horaz: Für ihn war Lukrez „ein Schwein aus der Herde des Epikur“.

Lukrez ging methodisch vor und arbeitete sich in diesen sechs Abschnitten in die Welt hinein, er schrieb von den Urelementen, von Atomen, der Leere und darüber, wie alles in emsiger Bewegung und den Fügungen des Zufalls unterworfen sei – auch der Mensch. Über die Sinne, das Empfinden und Denken drang er im vierten Buch bis zur Liebe vor, sogar mit Schilderungen des Sexual­aktes und der Vermischung von Samen. Der Mensch: ein Glied in einer Kette von Experimenten der Natur. Das große Finale folgt in Kapiteln fünf und sechs: Menschengeschichte, Wunder und Schrecken. Und die abermalige Verbannung der Götter aus der Welt und jedweder Zuständigkeit.

Immer wieder staunt man über wundervolle Details, etwa die Abhandlungen über Optik im vierten Buch. Oder: wie Windhosen entstehen. Warum Vulkane ausbrechen. Was nach physikalischem Bildungsgut riecht, bekommt indes einen Touch ins hoheitsvoll Deutende, ja Geheimnisvolle. Wenn etwa Lukrez den Himmel beschreibt, der sich in einer Pfütze spiegelt, wirkt das wie das Erhabene im Profanen. Und dann haut es einen um, wie brennend und gegenwartsnah, ausführlich und bildreich Lukrez sich gegen Ende seines Buchs der „Entstehung von Seuchen“ widmet. Hier kommen die Atome, die Partikel, mit unaufhaltsamem Verderben über uns. Die Art, wie Lukrez diese Seuchen schildert, lässt uns direkt an Infektionskrankheiten denken, die durch die Luft übertragen werden: durch Tröpfchen und Aerosole.

Lukrez hat – wie ein Orakel des Coronavirus – sehr genau beschrieben, wie diese Partikel „umherschwirren“, wie sie „die Luft verseuchen“, dort hängen sie „wie Wolken“. Das könne überall passieren, gleich einer Pandemie, denn es macht, wie der Lukrez-Übersetzer Klaus Binder es formuliert, „keinen Unterschied, ob wir an uns angenehme Orte reisen und dabei des Himmels Gewand tauschen oder ob die Natur selbst uns an einen verseuchten Himmel bringt, etwas, das plötzlich erscheint und uns, weil wir es nicht gewohnt sind, schädlich sein kann“.

Im lateinischen Original des Lukrez liest sich diese Passage in wundervollen Hexametern so:

„Nec refert utrum nos in loca deveniamus / nobis adversa et caeli mutemus amictum, / an caelum nobis ultro natura coruptum / deferat aut aliquid quo non consuevimus uti, / quod nos adventu possit temptare recenti.“

Da taucht also etwas auf, das wir nicht gewohnt sind („aliquid quo non consuevimus uti“): Ist das womöglich eine Prophezeiung, ein fast seherischer Hinweis auf mangelnde Immunität gegen ein Virus, wodurch ihm und seiner zerstörerischen Kraft fast widerstandslos Zugang zu unserem Körper gewährt wird? Und noch mehr denkt man an Sars-CoV-2, wenn Lukrez den Weg der Keime beschreibt:

„Inde ubi per fauces pectus complerat et ipsum / morbida vis in cor maestum confluxerat aegris, / omnia tum vero vitai claustra lababant.“

Zu Deutsch: „Und als dann die Kräfte der Krankheit durch den Schlund nach unten drangen in die Brust, dort in des Kranken jammernd Herz, hielten auch die Riegel des Lebens nicht länger.“ Die Eintrittspforte für die Keime, die aus der Luft kamen, ist also der Hals, von wo aus sie Organe erreichen, erst die Lunge, dann auch das Herz, die Leber, die Nieren. Lukrez beschreibt sogar Gerinnsel („sickerte das Blut“). Die Krankheit, die Lukrez die „Pest“ nannte (aber Pest war damals alles, was viele Menschen epidemisch erkranken ließ), überwältigte auch das zentrale Nervensystem.

In dem Übersetzer Klaus Binder hat Lukrez vor einigen Jahren einen Geistesverwandten gefunden. Binder hat die Hexameter in freie Prosa aufgelöst; sie besitzt zwar nicht den rhythmischen Schwung des Originals (den seine Vorgänger Hermann Diels und Karl Büchner, beides waschechte Altphilologen, in ihren meisterhaften Übersetzungen eingefangen haben). Doch Binder hat sich vom Versmaß entfesselt, er findet seinen eigenen Takt, seine Sprachmelodie, die einem das Innere des lateinischen Textes fast noch genauer aufschließt. Großartig liest sich jetzt, wie Lukrez erst Kontaktsperren sogar bei Beerdigungen beschrieb und dann die allgemeine Unklarheit, bei wem eine Therapie anschlug und bei wem nicht: „Begräbnisse, an denen kein Trauernder teilnahm, wurden eines hastiger als das andere vollzogen. Es gab keine Art der Behandlung, die sicher wirkte bei allen: Was die einen instand setzte, weiterhin die Leben spendenden Partikel der Luft zu atmen und weiterhin den gewölbten Himmel zu schauen, erwies sich als Gift für die anderen und brachte ihnen den Tod.“ Und was das Sterben mit der Gesellschaft machte, skizzierte Lukrez in Binders Worten so: „plötzliche Not und Armut“.

Epikur und Lukrez hat man schnöden Materialismus vorgehalten, einen egozentrischen Geist, der das Göttliche verneint und das Ich in den Vordergrund spielt. Die Wahrheit ist: Empathie und Humanität sprechen aus „De rerum natura“ wie aus reicher Quelle. Hier begegnet uns ein Weltenplan, der nicht fremdgesteuert ist, sondern das Individuum in den Mittelpunkt stellt. Gewiss fehlt Lukrez jeglicher Gedanke an Trans­zendenz, aber die Liebe zur Schöpfung verbindet das Epikureische und das Christliche stärker, als viele glauben. Der Lukrez-Forscher Stephen Greenblatt vermutet, dass der christliche Glaube einige Partikel des Lukrez möglicherweise früh aufgenommen hätte, wenn dessen Buch nicht über lange Zeit verboten, verschollen, vergessen gewesen wäre.

Wer es lesen möchte, benötigt zwingend eine Übersetzung; mit dem Großen Latinum kommt man kaum weiter. Lukrez gilt als einer der komplizierten lateinischen Autoren; oft schreibt er verdichtet und experimentell. Doch die Schönheit seines Stils und sein langer Atem sind hinreißend. Ein Buch für die Ewigkeit. Diesen Gedanken hätte Lukrez allerdings verlacht. Gänzlich uneitel, wie er war, glaubte er, auch sein Buch werde zerfallen und wieder im Staub der Atome aufgehen. Zum Glück ist Papier doch robuster.

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