Medizinethiker Dominik Groß „Eine Impfpflicht bringt nur noch tiefere Gräben“

Interview | Aachen · Brauchen wir eine allgemeine Impfpflicht? Der Aachener Medizinethiker Dominik Groß lehnt sie ab. Eine konsequente 2G-Regelung würde schon viel erreichen, sagt er.

 Impfgegner in Österreich.

Impfgegner in Österreich.

Foto: dpa/Georg Hochmuth

Die Debatte um eine mögliche allgemeine Impfpflicht ist in vollem Gange. Wir sprachen darüber mit dem renommierten Aachener Philosophen und Medizinprofessor Dominik Groß. Er ist Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Uniklinik RWTH Aachen.

Herr Groß, wie sollten wir uns aufstellen? 2G? 3G? Impfpflicht für alle oder nur begrenzt?

Groß Ich bin flächendeckend für 2G und für eine Impfpflicht für Angehörige der Gesundheitsberufe und für all diejenigen, die Sorgebedürftige und Patienten zu betreuen haben. Am Arbeitsplatz ist ansonsten 3G sinnvoll.

Also keine allgemeine Impfpflicht für die Gesamtbevölkerung?

Groß Zunächst einmal dauert es viel zu lange, bis es umgesetzt wäre. Das Verfahren ist komplex. Außerdem ist es rechtlich und ethisch umstritten. Es bringt zudem extremen sozialen Sprengstoff und spielt Verschwörungstheoretikern in die Hände. Diese fühlen sich nämlich dann bestätigt in ihrem Bild eines autoritären „Obrigkeitsstaates“. Eine allgemeine Impfpflicht würde aus diesen Gründen unser Problem nicht lösen, sondern zuvorderst die Gräben vertiefen und zu Eskalationen führen. Den Personen im Gesundheitswesen ist sie aber zuzumuten, weil sie von Berufs wegen eine besondere Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Patienten und Sorgebedürftigen tragen – daran darf und muss man sie messen, dem müssen sie gerecht werden. Dort ist es auch rascher umzusetzen.

Sind die von Ihnen favorisierten Maßnahmen nicht nur auf den Moment gerichtet? Brauchen wir nicht eine langfristige Option? Etwa durch eine allgemeine Impfpflicht?

Groß Eine allgemeine Impfpflicht ist nichts, was man mal so eben durchpaukt wie etwa einen Lockdown. Die Impfskeptiker werden nicht schlagartig Schlange stehen, um sich impfen zu lassen. Das wird Widerstände erzeugen, es wird Verwerfungen geben. Und in ein paar Monaten dürften wir ohnehin eine Herdenimmunität erreicht haben. Die werden wir auch dadurch erreichen, dass sich noch viele Nicht-Geimpfte infizieren werden. Da aber eine allgemeine Impfpflicht weder schnell noch reibungslos umzusetzen wäre, bringt sie uns an der Stelle nicht viel – außer noch tiefere Gräben.

Die Stimmung in der Bevölkerung für eine allgemeine Impfpflicht scheint aber nicht gänzlich ablehnend zu sein.

Groß Die Bevölkerung reagiert ja meist aus dem Moment heraus auf aktuelle Ereignisse. Jetzt ist die Situation gerade schlimm, also stellt man verständlicherweise  sehr weitreichende Forderungen auf, weil man sich davon rasche Abhilfe erhofft – und weil man sich über die Impfskeptiker empört. Sobald sich die Situation aber wieder etwas entspannt, ändern sich auch wieder die Forderungen. Die Menschen schalten wieder einen Gang zurück und richten ihren Blick wieder auf andere Dinge.

Sie halten eine allgemeine Impfpflicht also für gänzlich ausgeschlossen?

Groß  Sie ist jedenfalls besonders begründungspflichtig. Eine besondere Begründung wäre eine Notlage, und die zeichnet sich im Moment durchaus ab. Wenn diese Notlage aber nicht mehr besteht und die Zahlen wieder rückläufig sind, wird die Kritik an einer allgemeinen Impfpflicht wieder deutlich zunehmen. Eine allgemeine Impfpflicht ist jedoch nichts, was man kurzfristig verfügen und auch wieder abschaffen kann, sondern ein sehr grundsätzlicher Schritt. Das ist ein großer Unterschied zu einem zeitlich befristeten Lockdown oder einer Verschärfung der G-Regeln.

Gibt es keine Analogien zu anderen Krankheiten, bei denen eine Impfpflicht längst besteht?

Groß Nicht wirklich, zumal die Impfung gegen das Coronavirus keine „sterile Immunität“ erzeugt – jedenfalls legen das die bisherigen Studien nahe. Das heißt: Geimpfte erkranken zum Glück zwar sehr selten schwer, trotzdem können sie sich anstecken und auch andere infizieren. Das ist zum Beispiel ein Unterschied zur Masern-Impfung.

Wieso haben wir als aufgeklärtes Land eigentlich keine überzeugende Impfquote?

Groß Unter anderem, weil wir als ehemals geteiltes Land im Gebiet der ehemaligen DDR eine geringere Impfbereitschaft registrieren als im Westen Deutschlands.

Dabei gab es dort mal eine Impfpflicht, über die nicht diskutiert wurde.

Groß Ja, aber die DDR war auch kein freiheitlicher Staat. Es gibt in den östlichen Bundesländern ein größeres Misstrauen gegenüber dem Staat, was er empfiehlt, vorschreibt oder für richtig erklärt. Das ist in vielen (ehemals) kommunistischen Staaten so. Man muss da nur auf Russland schauen. In weiten Teilen Osteuropas liegen die Impfquoten niedrig. Die durchweg schlechtere Quote in Ostdeutschland wirkt sich natürlich auch auf unsere Gesamtimpfquote aus.

Aber die Quote im Osten erklärt doch nicht alles.

Groß Stimmt. Es liegt auch daran, dass wir in Deutschland die Freiheits- und Persönlichkeitsrechte traditionell sehr hoch hängen. Wir tun uns ja auch auch besonders schwer mit der Bereitschaft zur Organspende. Das zeigt sich etwa darin, dass wir an der Zustimmungslösung festhalten – und nicht die Widerspruchslösung zulassen, die viele europäische Nachbarn haben und zu höheren Organspendezahlen führt. Viele Mitbürger wollen die Entscheidung über ihren Körper und ihre Gesundheit in ihrer Hand behalten – und das betrifft auch die Bereitschaft, sich eine Impfdosis spritzen zu lassen.

In anderen Ländern sieht das ganz anders aus.

Groß Ja, etwa in Skandinavien: Dort haben wir hohe Impfquoten. Dort sehen sich viele Menschen in ihren Regierungen wirklich repräsentiert und vertrauen ihren Empfehlungen, auch in Gesundheitsfragen. Das ist bei uns etwas anders. Wir haben als Gesellschaft allerdings auch Erfahrungen mit dem totalitären „Dritten Reich“ gemacht, die uns geprägt haben. Der Individualismus spielt heute in Deutschland jedenfalls eine wichtige Rolle. 

Diese Individualisten haben leider ein sehr enges Verhältnis zu Impfgegnern.

Groß Genau. Das hat im Übrigen eine historische Tradition in Württemberg und Sachsen. Stuttgart und Dresden beispielsweise waren schon früher europäische Zentren des Impfgegnertums.

Kann man diese Leute überzeugen?

Groß Überzeugen vielleicht nicht, aber zum Einlenken bringen. Durch konsequentes 2G im öffentlichen Raum geht das vermutlich am ehesten. Wenn man vom öffentlichen Leben, vom Stammtisch, vom Sport konsequent ausgeschlossen ist, kommt man doch ins Grübeln. Das ist im Alltag richtig hart – und 2G ist zudem schneller umzusetzen und ethisch leichter zu begründen als eine allgemeine Impfpflicht.

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