Debatte um schärfere Maßnahmen Eine Impfpflicht ist nur Aktionismus

Analyse | Düsseldorf · Es gibt gute Gründe, die angesichts der rasanten Verbreitung der Deltavariante für eine Pflicht sprechen, sich immunisieren zu lassen. Es gibt aber bessere Gründe dagegen. Vor allem bricht Zwang die vierte Welle nicht.

 Aufgezogene Spritzen zum Impfen.

Aufgezogene Spritzen zum Impfen.

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Die Zahl der Corona-Infektionen steigt ungebremst, immer lauter werden Rufe nach einer Impfpflicht. Auch NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) und Familienminister Joachim Stamp (FDP) schließen sie nun nicht mehr aus: „Eine Impfpflicht ist ein massiver Grundrechtseingriff, der notwendig werden kann, wenn wir anders nicht aus der Spirale anderer Grundrechtsbeschränkungen kommen“, sagte Stamp. Laumann verwies auf die Stimmung bei Geimpften.

Für eine Impfpflicht spricht die miserable Quote: Bundesweit sind nur 68 Prozent der Bürger vollständig geimpft. Das hätte nicht mal gereicht, um beim Urtyp des Virus eine Herdenimmunität zu erreichen. Für die ansteckende Delta-Variante ist es erst recht zu wenig. Hierfür hätten es mindestens 85 Prozent sein müssen. Daher spricht sich nun auch der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach für eine Pflicht aus: „Leider kommen wir um eine Impfpflicht langfristig wohl nicht mehr herum. Bei der Kombination aus der hohen Ansteckung der Delta-Variante und der zu geringen Impfquote würden wir spätestens im nächsten Herbst eine neue Infektionswelle bekommen. Sogar eine Frühjahrswelle ist nicht ausgeschlossen. Erst eine Impfpflicht für Erwachsene beendet den Horror“, sagte er unserer Redaktion, betonte aber: „Bei Kindern sollte man von der Impfpflicht absehen.“

Das Brutale: Die Pandemie endet erst, wenn alle geimpft, genesen oder gestorben sind, wie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) betont. Und die Infizierung von 25 Millionen noch Ungeimpften (darunter Kinder) kann man in begrenzter Zeit nicht riskieren, ohne dass das Gesundheitssystem kollabiert. Die Zahl freier Intensivbetten in Deutschland sank binnen eines Tages um rund 300 auf 2400.

Auch ethische Argumente sprechen für eine Pflicht, weil eine große Minderheit das Land durch ihr Verhalten in einen Klinik-Kollaps oder neuen Lockdown zwingt. „Eine allgemeine Impfpflicht birgt die Gefahr, durch ihren bevormundenden Charakter die freiwillige Akzeptanz von Impfungen zu senken. Im Moment können wir jedoch nicht ignorieren, dass sich die pandemische Lage massiv zuspitzt“, sagt Susanne Schreiber, Ethikerin an der Humboldt-Universität Berlin und Mitglied des Ethikrats. Ihre persönliche Meinung: „Wenn Krankenhäuser und Intensivstationen ihren Aufgaben nicht mehr nachkommen können, müssen wir eingreifen – zum Schutz des Klinikpersonals und zum Schutz unser aller Gesundheit. Um das Pandemiegeschehen langfristig in den Griff zu bekommen, können unter solch schwierigen Umständen dann auch gesetzliche Vorgaben zu Impfverpflichtungen - ggf. gestaffelt nach Gefährdung - aus ethischer Sicht nicht mehr grundsätzlich abgelehnt werden. Ohne ausreichende Impfungen sind wir für kommende Wellen schlicht nicht gewappnet, wenn Kontaktbeschränkungen und Lockdowns nicht zu unseren ständigen Begleitern werden sollen.“ Die Professorin der Humboldt-Universität äußert sich hier persönlich, der Deutsche Ethikrat hat sich als Ganzes noch nicht zur allgemeinen Impfpflicht positioniert.

Rechtlich wäre die Einführung jedenfalls kein Problem. Das Infektionsschutzgesetz gibt dem Staat schon jetzt die Möglichkeit dazu. Sie wäre zwar ein Eingriff in die grundgesetzlich geschützte körperliche Unversehrtheit. Doch das Grundrecht muss zurückstehen, wenn es darum geht, das Leben anderer zu retten.

Doch es gibt auch gravierende Argumente gegen eine Impfpflicht. Die Politik bekäme ein Glaubwürdigkeitsproblem. Immer wieder haben Kanzlerin und Länderchefs betont, dass es keinen Zwang geben werde. Kommt er nun doch, ist das Wortbruch – frei nach dem Motto: Niemand hat die Absicht, eine Impfpflicht einzuführen. Der Eindruck, dass man sich auf „die da oben“ nicht verlassen könne, würde sich verfestigen. Zugleich drohen Impfgegner weiter radikalisiert zu werden, wie der Bielefelder Gewaltforscher Andreas Zick mahnt.

Vor allem ist eine Impfpflicht leichter gefordert als realisiert: Wie will der Staat sie denn durchsetzen? Sollen Impfverweigerer per Polizei in die Impfstelle oder zum Hausarzt gebracht werden? Wohl kaum, wie auch Stamp einräumt: „Es wird selbstverständlich keine Zwangsimpfung mit Polizeigewalt geben.“ Also wird es nur darauf hinauslaufen, hohe Bußgelder zu verhängen und zeitaufwendig durch alle Instanzen einzufordern, wodurch erstmal keine Im­pfung zusätzlich geschafft ist.

Auch der Hinweis auf die Impfpflicht gegen Masern oder früher gegen Pocken sticht nicht, wie Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) betont: Eine allgemeine Impfpflicht habe es bislang nur gegeben, wenn die Weltgesundheitsorganisation die Ausrottung einer Krankheit ausgerufen habe. Das werde bei Corona nicht gelingen, weil das Virus bei Menschen und Tieren vorkomme und daher dauerhaft bleiben werde. Eine Impfpflicht käme ohnehin viel zu spät, um die vierte Welle zu brechen. Bis sie in ein rechtssicheres Gesetz gegossen ist und angewendet wird, dürfte es Monate dauern. Auch Spahn sieht Zwang weiter kritisch.

Die Forderung nach einer Impfpflicht entpuppt sich als Aktionismus, mit dem eine überforderte Politik, die die Zügel über Wochen hat schleifen lassen, nun Handlungsfähigkeit zeigen will, ohne das aktuelle Problem der vierten Welle lösen zu können. Da ist es zielführender, wie Israel den Druck auf Verweigerer im Alltag so stark zu erhöhen, dass sie in einem Dauer-Lockdown leben müssen – bis sie sich freiwillig impfen lassen.

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