Gegenüber dem „Deutschlandfunk“ [Audio-Datei] sagte Aiwanger (Freie Wähler) am Mittwochmorgen, er werde so lange mit seiner Entscheidung warten, „bis sich die Lage noch besser geklärt hat und bis ich davon überzeugt bin, dass es für mich ganz konkret persönlich sinnvoller ist, sich impfen zu lassen, als sich nicht impfen zu lassen“.
„Mein Körper, darüber entscheide ich“ Warum sich Bayerns Vize Aiwanger nicht impfen lassen will
Düsseldorf/Köln · Bayerns Wirtschaftsminister und Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger hat sich bislang nicht gegen das Coronavirus impfen lassen und hat das auch erst einmal nicht vor. Warum, hat er nun ausführlich in einem Interview begründet.
Aiwanger betonte, er sei kein Impfgegner. Er halte Impfen auch für einen wichtigen Baustein im Kampf gegen das Coronavirus, aber diese Lösung werde nicht ausreichend sein. Eine Herdenimmunität sei ein hehres Ziel, aber die könne man nicht „herbeiimpfen“. Es gebe genug Fälle, in denen sich vollständig Geimpfte trotzdem infizierten. Eine zweifache Impfung biete keinen vollständigen Schutz, sagte Aiwanger. Er fürchte deshalb sogar „einen gegenteiligen Effekt“, weil vollständig Geimpfte anschließend zu sorglos agieren könnten. Vielleicht sei am Ende ein Geimpfter, der sich sicher fühlt, aber nicht mehr auf Corona testen lässt, ein größeres Risiko, als jemand, der nicht geimpft sei, und sich regelmäßig testet.
Auch Geimpfte dürften daher bei bestimmten Anlässen nicht komplett von Tests ausgenommen werden. Ebenso wichtig seien das Tragen von Masken und die Abstandsgebote. „Wir wären dumm, wenn wir die anderen Lösungen immer weiter diskreditieren“, sagte Aiwanger wörtlich.
Der stellvertretende bayerische Ministerpräsident zeigte Verständnis für Menschen, die einer Impfung skeptisch gegenüber stehen – und er sprach sich gegen eine „Jagd“ aus auf diejenigen, die noch nicht geimpft sind. Wissenschaft und Politik müssten „ohne Druck“ und „mit guten Fakten“ überzeugen.
Wichtig sei zudem eine gute Beratung vor der Impfung. Er höre persönlich immer mehr von Fällen, „die massive Impfnebenwirkungen auszuhalten haben.“ Da bleibe einem schon das ein oder andere Mal die Spucke weg. Über derlei Nebenwirkungen müsse daher offen und ehrlich gesprochen werden.
Aiwanger kritisierte auch das Hin und Her rund um den Covid-19-Impfstoff von Astrazeneca. Zunächst war dieser nur für jüngere Menschen empfohlen worden. Dann wurden wegen Meldungen über seltene Hirnvenenthrombosen die Impfungen vorübergehend gestoppt – und schließlich wegen neuerer Erkenntnisse dann wieder aufgenommen, aber nur für Menschen über 60 Jahren. „Es ist für einen Politiker auch schwierig in einer Zeit, wo wir vorläufig zugelassene Impfstoffe haben, sich vorne als Werbeträger hinzustellen und vielleicht nachher einräumen zu müssen: ‚Ja, das habe ich nicht gewusst.‘“ Auch deshalb werbe er aktuell nicht für die Impfung.
Er wundere sich sogar darüber, dass er sich dafür rechtfertigen müsse, sich nicht impfen zu lassen, sagte Aiwanger. Schließlich gehe es in der Impfdebatte um eine „rote Linie“, die nicht überschritten werden dürfe. „Mein Körper, darüber entscheide ich zuletzt“, sagte Aiwanger. Er müsse selbst darüber entscheiden dürfen. „Das letzte Wort liegt bei mir, das darf der Staat nicht überschreiten“, führte er aus.
Statt für die Impfung zu werben, sehe er seine Vorbildrolle und Verantwortung darin, „nicht alles zu tun, was die Mehrheit fordert und das politische Establishment von mir erwartet“. Selbst wenn er sich jetzt impfen ließe, würde das „die restlichen 20 Prozent“ nicht überzeugen, zeigte sich Aiwanger sicher. Diese würden sich dann viel mehr „von der Mitte abwenden“ und an die politischen Ränder wandern, weil „der letzte umgefallen“ sei.
Andere Politiker kritisierten Aiwanger anschließend scharf für seine Äußerungen. Tiemo Wölken, SPD-Politiker und Abgeordneter im Europaparlament, sprach davon, Aiwanger habe „gefährlichen Unsinn“ verbreitet. Es gehe nicht um ihm selbst, sondern darum, Menschen zu schützen, die sich nicht impfen lassen können, so Wölken auf Twitter. „Wissenschaft gilt für ihn nur, wenn es in seine Argumentation passt, sich nicht impfen zu lassen“, kritisierte er weiter. Und: „Aiwanger macht schlicht billigen Wahlkampf.“
Lorenz Gösta Beutin, für die Linken im Bundestag, schrieb als Reaktion auf das Interview: „Wer ein Angebot, sich impfen zu lassen, ablehnt, entzieht sich der gesellschaftlichen Solidarität.“ Und: „Wer Fake News über Impfung streut, gefährdet uns alle.“ Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir twitterte zudem: „Impfen schützt Sie, alle anderen, alle ihre Freund*innen und alle, die Sie lieben. Was hat mehr Freiheit, was hat mehr Vernunft, was bitte kann es überhaupt für bessere Gründe geben?“
Derweil ist rund sieben Monate nach dem Start der Corona-Impfungen die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland vollständig gegen das Virus geimpft. Wie aus aktuellen Daten des Bundesgesundheitsministeriums vom Mittwoch hervorgeht, haben nach den Impfungen vom Vortag rund 41,8 Millionen Menschen den nach bisherigem Forschungs- und Entwicklungsstand bestmöglichen Impfschutz gegen das Coronavirus erhalten. Für diesen sind bei den meisten Vakzinen zwei Dosen im Abstand mehrerer Wochen nötig. Das entspricht einen Impfquote von 50,2 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Ein weiterer Meilenstein: Mehr als jeder zweite Deutsche (50,2% / 41,8 Mio) hat den vollen Impfschutz, 61,1% (50,85 Mio) der Bürgerinnen und Bürger sind mindestens einmal geimpft. Je mehr sich jetzt impfen lassen, desto sicherer werden Herbst und Winter!
— Jens Spahn (@jensspahn) July 28, 2021
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nannte das Erreichen der 50-Prozent-Marke einen „weiteren Meilenstein“. Er schrieb bei Twitter: „Je mehr sich jetzt impfen lassen, desto sicherer werden Herbst und Winter!“ Die Zahl der täglich verabreichten Impfdosen ist in den vergangenen Wochen zurückgegangen, obwohl die Priorisierung nach Risikogruppen angesichts ausreichender Impfstofflieferungen inzwischen aufgegeben wurde.
Fast 50,9 Millionen Menschen in Deutschland haben bislang zumindest eine Corona-Schutzimpfung erhalten. Das sind 61,1 Prozent der deutschen Bevölkerung. Das Robert Koch-Institut (RKI) geht seit der Verbreitung der ansteckenderen Delta-Variante des Coronavirus davon aus, dass weit mehr als 80 Prozent der Bevölkerung geimpft sein müssen, um den Effekt der sogenannten Herdenimmunität zu erreichen. Erst dann wären durch großflächige Immunisierung auch Menschen geschützt, die etwa aus medizinischen oder Altersgründen nicht geimpft werden können.
Die Corona-Impfungen sind für alle Menschen ab dem Alter von 18 Jahren von der Ständigen Impfkommission beim RKI empfohlen. Bei 12- bis 17-Jährigen empfehlen die Wissenschaftler die Impfung nur unter bestimmten Bedingungen, etwa bei Vorerkrankungen. Für unter Zwölfjährige sind die Corona-Impfstoffe bislang nicht zugelassen.
Der Impffortschritt variiert zwischen den Bundesländern. Während bei den Spitzenreitern Bremen und Saarland bereits 70,1 beziehungsweise 66,9 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal gegen das Coronavirus geimpft sind, sind es in Thüringen 55,3 Prozent und beim Schlusslicht Sachsen lediglich 51,8 Prozent. Aktuelle Zahlen zum Fortschritt der Impfungen in Nordrhein-Westfalen lesen Sie hier.