Coronavirus in den Niederlanden Im Zickzack durch die Pandemie

Amsterdam · Weite Teile der Niederlande sind inzwischen Corona-Risikogebiet. Lange hatte die Regierung um Ministerpräsident Rutte auf Eigenverantwortung der Bürger gesetzt - jetzt schwenkt sie auf einen härteren Kurs um. Nicht alle Niederländer sind damit einverstanden.

 Stoffmasken in einem Amsterdamer Schaufenster (im Juli 2020).

Stoffmasken in einem Amsterdamer Schaufenster (im Juli 2020).

Foto: dpa/"koen Van Weel"

Der Ministerpräsident wählte klare Worte. „Einfach mal die Klappe halten“, nichts anderes sei zu tun, sagte Mark Rutte an die Adresse einiger Fußballfans in der niederländischen Eredivisie. Denn diese hatten sich, etwa bei der Begegnung Feijenoord Rotterdam gegen Twente Enschede, nicht an die Corona-Regeln gehalten: In niederländischen Stadien herrscht wegen der Pandemie ein Sing- und Schreiverbot. Dass dieses hörbar nicht eingehalten wurde, verärgerte den Regierungschef. „Das ist sehr dumm“, schimpfte Rutte. „Denn so bekommen wir das Virus nicht unter Kontrolle.“

Tatsächlich bereiten die steigenden Infektionszahlen in den Niederlanden Behörden und Medizinern zunehmend Sorgen. Ein Schlaglicht auf die angespannte Lage warf zuletzt der an deutsche Tagesbesucher gerichtete Appell, auf den traditionellen Shoppingbesuch am 3. Oktober zu verzichten. Lieber nicht so viele Besucher in den Einkaufszentren von Roermond oder Venlo - das war das Ziel des Aufrufs; und in der Tat blieb der ganz große Ansturm aus dem Nachbarland diesmal aus. Dass die Infektionszahlen in den Niederlanden steigen, hat sich inzwischen eben auch in Deutschland herumgesprochen - nicht zuletzt, seit das Auswärtige Amt seine Reisewarnung erweiterte.

Seit dem 2. Oktober gilt sie für alle niederländischen Provinzen bis auf Zeeland und Limburg (Venlo und Roermond sind von der Maßnahme also nicht betroffen). Bereits zuvor hatten Reisewarnungen für die Küstenprovinzen Nord- und Südholland zu einem wahren Exodus der deutschen Urlauber geführt. Zwar bedeutet so eine Warnung nicht, dass die Anreise verboten wäre - aber wer aus einem Risikogebiet zurückkehrt, muss bis zu einem negativen Testresultat in Quarantäne. Ab dem 15. Oktober darf man sich sogar erst ab dem fünften Tag der Quarantäne testen lassen. Das könnte viele abschrecken, die jetzt ihre Herbstferien planen.

Seitens der Niederlande gibt es übrigens keine Reisewarnung für Deutschland, und auch keinerlei Einreisebeschränkungen für deutsche Urlauber. Diese müssen sich lediglich an die Regeln halten, die auch für die Niederländer gelten.

 Corona-Hinweise für Besucher in Venlo (im Mai 2020).

Corona-Hinweise für Besucher in Venlo (im Mai 2020).

Foto: dpa/David Young

Diese Regeln wurden zuletzt leicht verschärft. So gilt eine Maskenpflicht zwar nach wie vor nur im öffentlichen Personenverkehr, allerdings hat die Regierung in der vergangenen Woche die „dringende Empfehlung“ ausgesprochen, in öffentlichen Gebäuden und Räumen einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen - auch auf Schulhöfen. Zuhause darf man nur noch drei Besucher gleichzeitig empfangen, außerdem gelten neue Einschränkungen für die Gastronomie.

Restaurants und Kneipen dürfen demnach nur noch maximal 30 Personen pro Raum bewirten und ab 21 Uhr keine neuen Gäste mehr hereinlassen. Spätestens um 22 Uhr ist Sperrstunde. Höchstens vier Personen dürfen an einem Tisch zusammen sitzen, es sei denn, sie gehören zum gleichen Haushalt.

Hintergrund ist ein kräftiger Anstieg der Neuinfektionen in den Niederlanden. Die Reproduktionszahl R liegt aktuell bei 1,27 (zum Vergleich NRW: 1,07); je 100.000 Einwohner verzeichnen die Behörden 26,3 neue Ansteckungen - und zwar pro Tag, nicht pro Woche.

Diese Entwicklung führt auch zu politischen Diskussionen. So war die Wirksamkeit von Alltagsmasken in den Niederlanden lange umstritten; die Behörden sprachen sich noch gegen das Tragen aus, als in allen Nachbarländern der Mund-Nasen-Schutz schon lange Standard war. Jaap van Dissel, Regierungsberater und Direktor des Zentrums zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten, vertritt seit Beginn der Krise den Standpunkt, Masken seien sinnlos. Bis vor Kurzem folgte die Regierung seiner Linie - machte aber dann eine Kehrtwende. Sie empfiehlt jetzt dringend, eine Maske überall da zu tragen, wo sich auch andere Menschen bewegen.

Diese Empfehlung hat das Land gespalten: In Masken-Befürworter und solche, die die Maßnahme ablehnen. Viele Supermärkte tun sich schwer damit, ihre Kunden zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes zu verpflichten, und auch auf der Straße tragen nur wenige Menschen eine Maske. Auf Twitter postete eine Lehrerin stolz ihre Bastelarbeit: Einwegmasken, aus denen sie zwei der drei Filterlagen entfernt hatte, um ihren Schülern das Atmen zu erleichtern. Regierungschef Rutte wiederum machte sich angreifbar, als er nach seinem Appell gefragt wurde, ob er denn selbst auch eine Maske zu tragen gedenke - und in entwaffnender Ehrlichkeit entgegnete: „Da habe ich noch nicht drüber nachgedacht.“

Dabei hatte Rutte zu Anfang der Pandemie noch große Zustimmung gefunden, mit der Idee eines „intelligenten Lockdowns“ und mit seinen nüchternen Appellen an die Eigenverantwortung der Bürger. Doch mit der Zahl der Neuinfektionen und Krankenhausaufnahmen wachsen auch die Zweifel in der Bevölkerung. Hinzu kommen Patzer von Regierungsmitgliedern - wie jener von Justizminister Ferd Grapperhaus, der sich auf seiner Hochzeit nicht an die eigenen Abstandsregeln hielt (woraus in den Niederlanden bereits die schöne Redensart „einen Grapperhaus machen” entstand).

Dass Eigenverantwortung auch Grenzen hat, zeigte sich am vergangenen Wochenende in der Stadt Staphorst. Dort hatte die Hersteld Hervormde Kerk, eine orthodox-protestantische Glaubensgemeinschaft, die Corona-Regeln so ausgelegt, dass an einem Sonntag jeweils 600 Gläubige gleichzeitig zu drei Gottesdiensten mit Gesang kamen. Weil die Kirchen rechtlich eine Ausnahmeposition haben, war das legal, aber angesichts des Gesundheitsrisikos nicht gerade wünschenswert.

Minister Grapperhaus traf jetzt mit den Kirchen eine neue Regelung: Nur noch 30 Gottesdienstbesucher sind erlaubt, und singen darf keiner. Sollten die Infektionszahlen weiter so stark wachsen, wird es wohl nicht die letzte Einschränkung bleiben.

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