Eine Bilanz Fünf Monate Corona

Düsseldorf · Im Januar brachte eine Geschäftsreisende das Coronavirus nach Deutschland. Seitdem ist einiges passiert: Kontaktverbote wurden erlassen, Schulen geschlossen. Tausende sind gestorben, noch viel mehr merkten von der Infektion fast nichts. Wie gut haben wir die Krise bisher gemeistert?

 Eine Coronavirus-Testprobe.

Eine Coronavirus-Testprobe.

Foto: dpa/Peter Steffen

Es beginnt in Gauting, Landkreis Starnberg, Oberbayern. Dort, am nördlichen Ende des Starnberger Sees, hat der Autoteilezulieferer Webasto seinen Hauptsitz. Die Firma agiert global, hat weltweit 50 Standorte. Auch in China. Ende Januar ist eine Kollegin aus der Volksrepublik zu Besuch in der bayerischen Provinz. Auf ihrer Rückreise fühlt sie sich unwohl. Zurück in der Heimat, geht sie zum Arzt und lässt sich auf das in China grassierende neuartige Coronavirus testen. Der Befund ist positiv. Am späten Abend des 27. Januar meldet das bayerische Gesundheitsministerium dann den ersten Corona-Fall in Deutschland. Es ist ein Arbeitskollege der Mitarbeiterin aus China. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn betont an dem Abend, es sei zu erwarten gewesen, dass das Coronavirus Deutschland erreiche. Er sagt: „Bleibt weiter vorsichtig. Achtet aufeinander.“

Aus einem Infizierten werden in den folgenden Monaten Hunderte, bald sind es Tausende. Urlaubsreisende verbreiten das Virus und treiben die Infektionszahlen in die Höhe. Der Karneval in Heinsberg wird zum ersten Hotspot in NRW. Gauting ist am Ende nur ein kleiner Infektionsherd von vielen. Heute sind es vor allem Schlachthöfe, in denen es immer wieder zu Ausbrüchen kommt. Zuletzt in Rheda-Wiedenbrück.

Anruf bei Karl Lauterbach. Das Piepen der ICE-Türen beim Schließen ist deutlich zu hören, unverkennbar. Die Verbindung bricht immer mal wieder ab. Auch das: unverkennbar ICE. Der SPD-Gesundheitspolitiker, Arzt und Epidemiologe ist zu einer wichtigen Expertenstimme dieser Krise geworden. Lauterbach weiß um die Bedeutung der Wissenschaft in diesen Tagen. Deswegen schätzt er es auch, dass die Bundesregierung sich bei ihren Entscheidungen von der Expertise der Forscher mit hat leiten lassen. Evidenzbasierte Politik nennt Lauterbach das.

Doch dass Deutschland bisher vergleichsweise glimpflich durch die Krise gekommen ist, hat für Lauterbach auch einen wenig beachteten Grund, den man aber in der Politik nicht so gerne hört. „Wir dürfen nie vergessen, dass wir unglaubliches Glück hatten“, sagt Lauterbach. Das Virus habe Deutschland erst getroffen, als etwa Italien und Spanien bereits hohe Fallzahlen meldeten. Heute vermutet man, dass der Erreger sogar schon Ende 2019 in Italien auftrat und sich dann zunächst unbemerkt verbreitete. „Wir hatten Glück, dass der Webasto-Fall eher harmlos verlief. Dadurch konnten wir früh damit beginnen, das Virus zu studieren und uns darauf einzustellen“, sagt Lauterbach. Auch habe es hierzulande nicht derlei Superspreading-Events wie etwa in Italien gegeben, wo ein Fußballspiel gleich für mehrere Tausend Infektionen verantwortlich war.

„Den Zeitvorsprung wussten wir aber auch zu nutzen“, sagt Lauterbach. Die Testkapazitäten seien schnell auf einem hohen Niveau gewesen. „Das haben wir der Berliner Charité und dem Team um Christian Drosten zu verdanken.“ Dies habe dabei geholfen, die Stärke des Virus überhaupt erst zu erkennen. Einschränkungen für die Bevölkerung gibt es zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Die Bundesregierung reagiert auf die Krise merklich am 27. Februar mit der Einsetzung eines im Pandemieplan des Bundes vorgesehenen Krisenstabs. Am 11. März erfolgt die Absage von Großveranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern. Zwei Tage später appelliert Gesundheitsminister Spahn an die Kliniken, planbare Operationen zu verschieben, um mehr Kapazitäten für Corona-Intensivpatienten zu schaffen. Geschäfte und Restaurants werden geschlossen, ebenso die Schulen und Kitas. Das Tragen von Masken beim Einkaufen wird zur Pflicht. In den Ländern sind die Beschränkungen mal schärfer und mal sanfter. Doch welche Maßnahmen haben welche Wirkung?

 Wie war das doch gleich mit dem Abstand? Bei einem Besuch der Uniklinik Gießen Mitte April drängen sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU, l), und Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU, M) mit Begleitern in einem Fahrstuhl.

Wie war das doch gleich mit dem Abstand? Bei einem Besuch der Uniklinik Gießen Mitte April drängen sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU, l), und Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU, M) mit Begleitern in einem Fahrstuhl.

Foto: dpa/Bodo Weissenborn

Ein Team um den britischen Statistiker Seth Flaxman vom Imperial College in London geht davon aus, dass die Einschränkungen allein in elf europäischen Ländern bis Anfang Mai Millionen Tote verhindert haben. Die Untersuchung ist jüngst im Fachblatt „Nature“ erschienen. Die Forscher hatten für ihr Modell die erfassten Covid-19-Todeszahlen der EU-Gesundheitsbehörde ECDC zugrunde gelegt und den Verlauf der Infektionszahlen und der Reproduktionsrate rückblickend ermittelt. Sie modellierten den Pandemieverlauf so, als habe es keine Eindämmungsmaßnahmen in den Ländern gegeben. In solch einem Szenario kamen die Forscher auf 3,1 Millionen Tote mehr. In einer anderen Studie, ebenfalls in „Nature“ erschienen, heißt es, die Einschränkungen hätten bis zu 560 Millionen Infektionsfälle verhindert. „Ich denke, kein anderes menschliches Unterfangen hat jemals in so kurzer Zeit so viele Leben gerettet“, sagt Studienleiter Solomon Hsiang von der University of California in Berkeley.

Der Ökonom Klaus Wälde von der Universität Mainz untersuchte mit seinem Team konkret die Wirkung des Mund-Nasen-Schutzes auf die Eindämmung der Pandemie. Die Forscher pickten sich die Stadt Jena heraus. Dort wurde die Maskenpflicht bereits am 6. April eingeführt, deutlich früher als im Rest Deutschlands. Die Studie verglich die Zahlen an Covid-19-Infektionen nach der Maskenpflicht mit der Entwicklung in einer Gruppe ähnlicher kreisfreier Städte und Landkreise, in denen es noch keine Maskenpflicht gab. Die Zunahme der Infektionszahlen in Jena entsprach nur etwa einem Viertel (22,9 Prozent) der Zunahme in der Vergleichsgruppe. „Zusammenfassend hat die Einführung der Maskenpflicht in den jeweiligen Kreisen zu einer Verlangsamung der Covid-19-Entwicklung beigetragen“, resümieren die Autoren.

Obwohl Studien darauf hindeuten, dass die Maßnahmen bei der Eindämmung des Virus halfen, sind die Schritte von Bund und Ländern umstritten. Auch die Fachwelt ist in Teilen skeptisch. Während etwa der Physiker Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig einen noch härteren Lockdown begrüßt hätte, kritisiert der Bonner Virologe Kostenpflichtiger Inhalt Hendrik Streeck die Härte der Maßnahmen. Im Interview mit unserer Redaktion sagte er jüngst: „Ich bin immer noch der Meinung, dass wir zu schnell zu viele Eindämmungsmaßnahmen getroffen haben. Man muss dem Virus Zeit lassen. Ob Maßnahmen wirken, sehen wir erst zehn bis 14 Tage später. Diese Zeit hätten wir uns bei so manchen Verschärfungen nehmen sollen. Man konnte damals nicht mehr nachvollziehen, welche Maßnahme eigentlich am besten gegriffen hat. Virologisch gesehen hätte ich mir gewünscht, dass man mehr abgewartet hätte.“

Die Frage, die nur schwer zu beantworten sein wird, lautet also: Ist es besser, einen harten Lockdown zu fahren und ihn nach und nach zu lockern oder einen sanften Lockdown bei Bedarf zu verschärfen? Beides ist ein Experiment. Doch sollte man sich stets bewusst machen, dass das Untersuchungsobjekt der Mensch ist, nichts Abstraktes. Sind die Maßnahmen zu lasch, erkranken womöglich mehr Menschen, manche sterben. Gehen wir erst dann restriktiver vor, schützen wir die anderen, doch die Toten bekommen wir dadurch nicht zurück. Geht man dann nicht lieber auf Nummer sicher?

Der Medizinhistoriker Malte Thießen betont: „Der Erfolg von Vorsorge ist unsichtbar. Und schlimmer noch: Vorsorge wird oft zum Opfer ihres eigenen Erfolgs, weil sie angesichts ausbleibender Katastrophen als unverhältnismäßig kritisiert wird.“ Zurzeit gehe die Debatte um die Verhältnismäßigkeit des Lockdowns zu stark von den Eindrücken jener aus, die kein erhöhtes Risiko trügen, meint Thießen. „In diesem Sinne wird nicht nur die Bedrohung unsichtbar, sondern ebenso die Bedrohten, für die wir aber verantwortlich sind.“

 Das Coronavirus unter einem Elektronenmikroskop.

Das Coronavirus unter einem Elektronenmikroskop.

Foto: dpa/Uncredited/NIAID-RML/AP/dpa

„So richtig es ist, eine Adjustierung der Maßnahmen auf das jetzt erforderliche und angemessene Maß vorzunehmen, so falsch wäre es, die am Anfang, vor allem im März, getroffenen Beschlüsse zu kritisieren“, sagt Matthias Mohrmann, Vorstandsmitglied der AOK Rheinland/Hamburg. Die Erkenntnislage sei heute eben eine völlig andere.

Höchstwahrscheinlich hat Deutschland sehr viel richtig gemacht. Aber die Krise offenbarte auch Schwachstellen im System. So gelang es Bund und Ländern gerade zu Beginn der Pandemie nicht, Desinfektionsmittel und Mund-Nasen-Schutz in ausreichendem Maß bereitzustellen. Noch heute wartet man auf Lieferungen. „Für die Zukunft muss daran gearbeitet werden, dass wir besser in Bezug auf die Verfügbarkeit medizinischer Grundausrüstung sowie nachhaltig aller medizinischen Produkte vorbereitet sind“, sagt Ingo Kramer, Vorstandsmitglied der Akkreditierten Labore in der Medizin: „Hier sollte darauf geachtet werden, dass wir trotz weiterhin notwendiger globaler und europäischer Zusammenarbeit unsere unabhängige Handlungskraft möglichst wiedererlangen.“

Auch bei der Einführung einer Corona-Warn-App ließ man wertvolle Zeit verstreichen, weil sich die Politik in Datenschutzdebatten verfing, um die man sich in den Jahren zuvor gedrückt hatte. Diese Woche ist die App nun an den Start gegangen. Ob es sie jetzt überhaupt noch braucht, ist fraglich. Ebenso, inwieweit insbesondere zur Risikogruppe gehörende ältere Menschen sie nutzen werden.

Und dann ist da noch die Sache mit dem Dankesagen. Ärzte, Krankenpfleger und Sanitäter leisteten Beispielloses in dieser schwierigen Zeit. Wir feierten sie zu Recht als Helden. Ausreichend war das aber nicht. „Mit Blick auf andere Institutionen hätten unsere Krankenhausmitarbeiter auch aufgrund des schnellen Krisenmanagements und des enorm hohen persönlichen Einsatzes noch mehr verdient, als als Helden der Stunde herausgestellt zu werden“, sagt Jochen Brink, Präsident der Krankenhausgesellschaft NRW. Ein Schicksal, das viele Menschen in den sogenannten systemrelevanten Berufsgruppen teilen.

Ob uns nach den Sommermonaten nun eine zweite, womöglich heftigere Infektionswelle erreicht, kann man nicht mit Sicherheit sagen. Es wird auch davon abhängen, wie wachsam wir bleiben und wie gut es den Gesundheitsämtern gelingt, Infektionsketten nachzuverfolgen. Die derzeitige Ruhe kann trügerisch sein. Denn die Krise ist nicht überwunden. Niedrige Infektionsfallzahlen bedeuten nicht, dass das Virus verschwunden ist. Es bedeutet lediglich, dass es weniger Gelegenheiten hatte, weiter in der Bevölkerung zu wüten. Eine Herdenimmunität wird dadurch nicht so bald eintreten. Die Gefahr größerer Ausbrüche bleibt. Stoppen lässt sich die Pandemie wohl nur mit einem Impfstoff, der umfassend hilft und ohne Nebenwirkungen auskommt. Allein in Deutschland arbeiten derzeit 60 Firmen daran, einen solchen Impfstoff zu finden. „Die Unternehmen sind weit gegangen, um ja nichts zu versäumen“, sagt Han Steutel, Präsident des Verbands der forschenden Arzneimittelhersteller. Ein Impfstoff soll frühestens Mitte 2021 bereitstehen – was sehr schnell wäre. Bundesforschungsministerin Anja Karliczek sagte am Donnerstag: „Nach wie vor können wir bei all unseren Anstrengungen keine Wunder erwarten.“

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